Thomas Kunst | ZANDSCHOWER KLINKEN

D 2021 | 254 Seiten
Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-42992-1

Claasen geht den Weg zu seinem Auto zurück, das er am Anfang der Verlaatstraße in einer Seitengasse abgestellt hat.

(Seite 11)


Da ist also dieser Typ, Bengt Claasen heißt er, der ein neues Leben anfangen will. Wo er damit startet, das überlässt er dem Zufall: Er legt ein Hundehalsband auf das Armaturenbrett seines Autos, fährt ganz langsam und vorsichtig durch die norddeutsche Pampa und wo das Halsband runterfällt, dort will er bleiben. So führt ihn das Schicksal nach Zandschow, irgendwo an der A7, dem nestigsten Nest nördlich der Linie Dortmund-Berlin. Die Leute hier haben nichts zu tun, sind arm und völlig vom hektischen Treiben der Großstädte abgeschnitten. Dennoch bleiben sie, denn sie machen das Beste aus dem, was sie haben, auch wenn das nicht viel ist. 

Wolf, der Getränkehändler — der so etwas wie der heimliche Bürgermeister des Ortes ist —, veranstaltet Volksfeste um den Feuerlöschteich herum, mit Hängematten zwischen importierten Palmen und exotischen Biersorten, und nennt Zandschow sein Sansibar. Eine beliebtes Event ist auch die zeitweise Patenschaft von Plastikschwänen auf dem Teich, die von den Paten für ein paar Stunden an Land imitiert werden. Und um den Anschluss an die reale Welt nicht gänzlich zu verlieren, stürmen die Einwohner regelmäßig einen alten Bauwagen, in dem sie eine U-Bahnfahrt durch die Großstadt nachstellen, während die anderen von außen am Wagen rütteln… Hä? Und hier will Bengt einen Neuanfang wagen? Well, why not!?


Ich lese ja gern Bücher, die mich fordern, bei denen mehr zwischen den Zeilen steht, als im Text selbst. Das darf auch mal etwas abgefahrener sein als üblich, und ich muss auch nicht alles verstehen. Insofern hat Thomas Kunst mit seinem neuen Roman ZANDSCHOWER KLINKEN alles richtig gemacht. Man kann — wenn man will — viel in den Text hineininterpretieren: die derzeit so beliebte Stadtfluchtromantik, das Sterben der vernachlässigten Orte im ländlichen Raum, oder die Auswirkungen von Hartz IV in den ohnehin schon schwachen Regionen. Aber das muss alles gar nicht sein, man kann sich auch einfach treiben lassen.

Die einzelnen, zum Teil völlig absurden Szenen lesen sich wie trockene Berichte aus einer fremden Kultur, wie Tagebucheinträge eines überforderten Touristen, der die Welt, in der er gelandet ist, nicht mehr versteht. Da ist viel Witz dabei, viel Groteskes; stellenweise musste ich laut loslachen, so verrückt wirkt das Treiben in Zandschow. (Und nicht nur dort: der Roman führt auch ins kolumbische Cartagena, wo das Brüderchen aus dem Märchen Brüderchen und Schwesterchen als Reh Taxi fährt; oder an die Küste von North Sentinel Island, deren Einwohner mit Speeren und Pfeil und Bogen jeden Kontakt von der Außenwelt unterbinden.)

Und auch stilistisch gibt es bei Kunst viel zu entdecken. Der Roman ist nicht einfach nur heruntergeschrieben, folgt keinem chronologischen Plan, sondern wirkt improvisiert wie eine Jazznummer. Er folgt keiner Logik, eher dem Herzen eines Musikers, der sich im freien Spiel von der Welt löst. Das ist nicht immer einfach zu lesen, und es bringt auch nicht immer einen Aha-Effekt mit sich. Aber wenn man dem Text Zeit gibt und keine profanen Forderungen nach Unterhaltung an ihn stellt, sich einfach treiben lässt und sich am Einfallsreichtum erfreut, wird man belohnt. Das ist tatsächlich ein bisschen so wie beim Jazz.


ZANDSCHOWER KLINKEN erschien im Suhrkamp Verlag, dem ich herzlich für das Rezensionsexemplar danke. Mit eiinem Klick aufs Coverbild kommt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

Ein Gedanke zu “Thomas Kunst | ZANDSCHOWER KLINKEN

  1. Ich mochte alles an diesem Buch, die Zuversicht, die Open-Mic-Mentalität, dieser Sinn fürs Detail und der Wunsch in der Gemengelage Freude für alle zu generieren. Ich wünsche diesem Buch sehr viele Leser und Leserinnen. Man kann es auch von hinten nach vorn, von der Mitte zum Anfang, zur Mitte zurück zum Ende lesen, ohne etwas zu verpassen. Den Schreibstil mit Jazz zu vergleichen, passt sehr gut, ein Jazz, der selbst für Nicht-Jazz-Liebhaber Freude auf mehr macht.

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