Susan Choi | VERTRAUENSÜBUNG

USA 2019 | 352 Seiten
OT: »Trust Exercise«
Aus dem Amerikanischen von Tanja Handels und Katharina Martl
Kjona Verlag
ISBN: 978-3-910372-11-5

Autofahren können sie beide nicht.

(Seite 5)

Ein wichtiger Grundpfeiler in kreativen Ensembles – einer Theatergruppe beispielsweise – ist das Vertrauen in die anderen Mitwirkenden. Jede und jeder Einzelne muss sich auf der Bühne und auch abseits davon mit hundertprozentiger Sicherheit auf die Anderen verlassen können, ganz gleich welche Situation auch eintreten mag. Ein solches Vertrauen kann nicht vorausgesetzt, es muss in langen, intensiven Sitzungen erarbeitet und verinnerlicht werden. Susan Choi lädt in ihrem Roman VERTRAUENSÜBUNG zu genau solchen Prozessen ein und spielt zeitgleich auf hohem literarischen Niveau mit dem Begriff Vertrauen als solchem.

Ort des Geschehens ist die Citywide Academy for the Performing Arts, kurz CAPA genannt, eine elitäre Schauspielschule in einer namenlosen Stadt im Süden der Vereinigten Staaten. (Choi selbst verbrachte ihre Jugend in Houston, Texas; es ist davon auszugehen, dass sich die fiktive Kaderschmiede auch dort befindet.) Es sind die frühen 1980er Jahre als die beiden talentierten Teenager Sarah und David als zwei der wenigen Auserwählten an der CAPA angenommen werden. Ihr Lehrer Mr. Kingsley ist eine Theaterlegende mit langjähriger Broadway-Erfahrung, ein schillernder Star, der seine jungen Schützlinge mit einer emotionalen Härte trainiert, die an psychische Gewalt grenzt. Besonders das Thema des gegenseitigen Vertrauens innerhalb der Gruppe hat es ihm angetan. Laut Mr. Kingsley kann man niemandem vertrauen, der sich nicht vollends öffnet, und so schält er in demütigenden Prozessen die seelischen Schutzschilde der Schülerinnen und Schüler ab, bis nur noch deren zarte und verletzliche Kerne übrig bleiben – eine notwendige Übung für ihn; ein Höllenritt für seine Klasse.

Bei dieser erzwungenen Nabelschau – so befreit von sozialen Gefühlen wie Scham und Anstand – bleibt es nicht aus, dass sich gegenseitige Zuneigung schneller und freier äußert als in der bürgerlichen Welt. Sarah und David beginnen während ihrer emotionalen Entblätterung eine intensive Affäre, die nicht nur auf jugendlicher Liebe basiert, sondern auch auf Macht und Wettstreit, was von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist. Denn bei aller künstlerischen Freizügigkeit: Die beiden sind fast noch Kinder und bei Weitem noch nicht so geerdet wie ihr Lehrer. Hinzu kommt eine ungeahnte Gefahr von außerhalb: Im bunten Freundeskreis von Mr. Kingsley gibt es auch einige Männer, die ganz genau wissen, in welch fragilen Zuständen sich besonders die Schülerinnen der CAPA befinden, und nutzen diese ungleichen Machtverhältnisse schamlos aus.


Diese kleine Zusammenfassung stellt allerdings nur die erste Hälfte des Romans dar. Ab hier beginnt Susan Choi ihre wahren künstlerischen Absichten zu offenbaren und das tut sie mit einem narrativen Trick, der ihr 2019 völlig zu Recht den renommierten National Book Award für VERTRAUENSÜBUNG einbrachte. Es folgen zwei Zeitsprünge von jeweils mehreren Jahren, in denen die Geschichte zwar weitererzählt wird, aber nicht aus der Sicht Sarahs oder Davids. Ende der 1990er Jahre ist es Karen – eine der eher unscheinbaren CAPA-Mitschülerinnen –, die das Ruder übernimmt. Sarah ihrerseits hat die Schauspielerei an den Nagel gehängt und ist Schriftstellerin geworden. In ihrem neuen Buch verarbeitet sie die Erfahrungen an der CAPA und stößt damit bei Karen auf völliges Unverständnis, denn diese hat ganz andere Erinnerungen an jene Zeit. Eine Konfrontation ist unvermeidlich.

Ab diesem Moment, ab der zweiten Hälfte des Romans, wird das Buch selbst zur Vertrauensübung. Es wird klar, dass die erste Hälfte der von Sarah geschriebene Roman ist und von Karen überzeugend aus den Angeln gehoben wird. Wir Lesenden geraten unweigerlich mit in diesen Sturm aus konträren Wahrheiten. Wem kann man denn hier noch trauen, wenn nicht einmal der Autorin selbst zu glauben ist? Susan Choi führt ihr Publikum gekonnt an der Nase herum und direkt aufs Glatteis, nur um nach einem letzten Zeitsprung – über den hier nichts weiter verraten sei – erneut alles in Frage zu stellen.

Es sind Bücher wie diese, die uns weit mehr als ein paar Stunden guter Unterhaltung bieten. Susan Choi entfaltet eine vielschichtige Erzählung, die mit jedem Kapitel die Färbung ändert, und holt uns aus der Rolle der Lesenden in die der Getäuschten. Wir werden also fast so etwas wie Figuren ihres eigenen Kosmos, eine Erfahrung, die man so leicht nicht wieder vergisst.


VERTRAUENSÜBUNG erschien in der Übersetzung von Tanja Handels und Katharina Martl im Kjona Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick auf Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

3 Gedanken zu “Susan Choi | VERTRAUENSÜBUNG

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