USA 2020 | 288 Seiten
OT: »Telephone«
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-27266-8
Die Leute, und damit meine ich die, sind nie auf Wahrheit,
(Seite 9)
sondern immer nur auf Befriedigung aus.
Der wohl schwerste Schicksalsschlag, den Eltern ereilen kann, ist zweifellos der Verlust des eigenen Kindes. Eine solche Tragödie – aus welchen Gründen auch immer – wirft auch die Stärksten aus der Bahn und kann dazu führen, dass man die Motivation verliert, selbst am Leben zu bleiben. Percival Everett hat mit ERSCHÜTTERUNG einen ebenso eindringlichen wie meisterhaften Roman über das Unbeschreibliche geschrieben.
Der Ich-Erzähler Zach Wells ist Paläontologe und Professor an einer Universität in Kalifornien. Sein Leben empfindet er als langweilig und nicht der Rede wert. In all den Jahren, die sich alle irgendwie ähneln, hat er sich eine dicke Schicht Sarkasmus zugelegt, eine Unnahbarkeit gegenüber seinem Kollegium, dass man ihn ohne Weiteres als schrulligen Einzelgänger bezeichnen kann. Auch die Ehe mit seiner Frau Meg ist vor langer Zeit schon einer starren Routine gewichen. Der einzige Lichtblick in Zachs Leben ist die zwölfjährige Sarah, seine kluge und schöne Tochter, ein aufgewecktes Kind mit vielen Interessen. Bei einer gemeinsamen Partie Schach übersieht Sarah – die das Spiel in ihren jungen Jahren schon viel besser beherrscht als ihr Vater – einen offensichtlichen Zug und verliert. Zunächst denken sich die Wells‘ nichts dabei, doch die Unaufmerksamkeiten häufen sich auch im Alltag, hinzu kommen Sehschwierigkeiten und krampfartige Aussetzer. Eine Fachärztin liefert die furchtbare Diagnose: Batten-Syndrom, ein unbehandelbarer Gendefekt, der noch im Jugendalter unweigerlich zum Tod führen wird.
Für Zach, der als Wissenschaftler stets der Überzeugung ist, dass es für alles eine Erklärung gibt, beginnt nun der Abstieg in eine existenzielle Sinnkrise. Die Krankheit seiner Tochter ist gleichsam ein qualvoll langsames Verlöschen – diesem Vorgang jahrelang zuzusehen, ohne helfen zu können, ist ein Kampf, dem er nicht gewachsen zu sein glaubt. Es gibt natürlich Möglichkeiten, sich der Tragödie zu entziehen, doch alle enden in noch mehr Drama und Tränen, Wut und Verzweiflung. Doch dann findet Zach einen kleinen Zettel mit der Aufschrift »Hilf mir!«, eingenäht in den Kragen eines Sakkos, das er im Netz bestellt hat, und schöpft neuen Lebensmut…
ERSCHÜTTERUNG ist ein hartes Buch, es ist trostlos und bitter und handelt von Schmerz, Angst und Hilflosigkeit. Everett begeht aber nicht den Fehler, mit Absicht auf die Tränendrüse zu drücken, das ist nicht sein Anliegen. Es geht ihm nicht um das voyeuristische Herumsuhlen in einer tragischen Situation, sondern eher um das Ausloten der seelischen Tiefen seiner Hauptfigur, und das gelingt ihm mit einer Meisterhaftigkeit, die an die großen Romane von Philip Roth erinnert. Und als wäre das allein der Finesse noch nicht genug, schreibt Everett auf höchstem Niveau gleichermaßen einfühlsam und abweisend, liebevoll und zynisch, wissenschaftlich trocken und poetisch überbordend – diese Ambivalenzen ergeben einen melancholischen Grundton, der nicht besser zu Zach Wells passen könnte. Für mich ist ERSCHÜTTERUNG eines der besten Bücher dieses Frühjahrs.
Nach GOD’S COUNTRY vor einigen Jahren und ICH BIN NICHT SIDNEY POITIER gerade kürzlich ist ERSCHÜTTERUNG mein dritter Roman von Percival Everett. Damit steht auch schon so ziemlich alles, was von diesem Mann in deutscher Übersetzung zu haben ist, bei mir im Regal. Leider, denn obwohl Everett in den USA seit bald vierzig Jahren einen Roman nach dem anderen veröffentlicht und regelmäßig mit Preisen überschüttet wird – ERSCHÜTTERUNG war sogar für den Pulitzer-Preis nominiert –, ist der Name hierzulande kaum bekannt. Völlig unverständlich – Everett ist ein großartiger Schriftsteller, der auch im deutschsprachigen Raum viel Beachtung erführe, würde man ihn nur ordentlich vermarkten. Nun hat sich der Hanser-Verlag den Autor ins Boot geholt … hoffentlich können wir uns in den nächsten Jahren nachträglich auf seine bisherigen Romane freuen.
ERSCHÜTTERUNG erschien – wie gerade erwähnt – in der Übersetzung von Nikolaus Stingl beim Carl Hanser Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick auf Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin findet.
Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
Ich habe soeben deinen Blog entdeckt und mich direkt wohl gefühlt. Sehr schöne Rezensionen und auch die Aufmachung mag ich gerne. Das Buch kannte ich bisher nicht, habe es aber direkt auf meine Leseliste für die zweite Jahreshälfte gesetzt.
Liebe Grüße,
Zeilentänzerinhttp://www.zeilentaenzer.de
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Wow, danke für das Lob! 😇
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