Rolf Lappert | LEBEN IST EIN UNREGELMÄSSIGES VERB

CH 2020 | 992 Seiten
Hanser
ISBN: 978-3-446-26756-5

Wir stehen da wie Pferde, mit schweren Köpfen, eine Herde von vier.

(Seite 9)

Die Romane, die ich in meinem Leben zweimal gelesen habe, kann man einer Hand abzählen. Neben John Irvings GARP UND WIE ER DIE WELT SAH und Jonathan Safran Foers ALLES IST ERLEUCHTET – beides für mich sprichwörtliche Bücher für die Insel – zählt auch Rolf Lapperts Erfolgsroman NACH HAUSE SCHWIMMEN dazu, ein Werk, das ich ohne zu zögern als einen der besten deutschsprachigen Romane der letzten zwanzig Jahre bezeichnen würde und schon dutzende Male ausgeliehen oder verschenkt habe.

In den letzten Jahren war es still geworden um den Schweizer. Der Grund dafür liegt nun in den Buchhandlungen: sein knapp tausend Seiten langes – und ebenso viele Gramm schweres – opus magnum LEBEN IST EIN UNREGELMÄSSIGES VERB. Die letzten vier Wochen – unterbrochen nur kurz für Iris Wolff – habe ich mit der Lektüre des langerwarteten Romans verbracht und kann nun die Frage beantworten, die sich alle Lappertianer stellen: Hat sich das Warten gelohnt?


1980 wird irgendwo im niedersächsischen Hinterland die Öko-Kommune Kampstedter Bruch von den Behörden hochgenommen. Den Betreibern – Systemaussteigern aller Fasson – wird sektenähnliches Gebahren, Drogenbesitz, sexueller Missbrauch und Freiheitsberaubung vorgeworfen. In dem von der Klatschpresse begleiteten Gerichtsverfahren stehen vor allem die vier Kinder im Fokus der Öffentlichkeit. Leander, Ringo, Frida und Linus – in der Kommune zur Welt gekommen und sie nie verlassen. Diese vier Kinder, die die letzten zwölf Jahre als feste Einheit miteinander verbracht haben, werden nun voneinander getrennt und müssen ihr Leben allein meistern in einer Welt, auf die sie nicht vorbereitet wurden.

Leander trifft es noch am besten. Er wird auf Schulen und Internate geschickt, wo er Freunde findet. Dank seines reichen Onkels stehen ihm viele Türen offen, von denen er jedoch keine betritt. Ein windiger Theater-Regisseur, der durch Zufall die Tagebücher der Kommunen-Kinder findet, überredet Leander, seine Kindheit in einem Buch festzuhalten, so beginnt Leander eine wackelige Karriere als Schriftsteller. Ringo gelingt im Lauf seines Lebens mehrmals der Sprung in die Schlagzeilen: zweimal als Lebensretter, einmal als Verursacher eines Unfalls mit Todesfolge – immer war er betrunken oder high. Sein Werdegang ist gezeichnet von Alkoholsucht und Drogenmissbrauch; sein Lebenswille, sein Ehrgeiz, etwas auf die Beine zu stellen, ist gleich null. So ist das auch noch als er mit Mitte fünfzig seine Geschichte einer Journalistin offenbart, die eine Story daraus machen will. Frida dagegen nimmt alles an, was das Leben ihr bietet. Auf der Suche nach ihrer Mutter bereist sie als junge Erwachsene halb Europa und Indien, lernt die unterschiedlichsten Menschen kennen, erlebt Momente des Glücks und der Enttäuschung, und schrammt dabei immer nah an ihrer Belastungsgrenze entlang. Linus – die tragischste Figur des Vierergespanns – täuscht mit dreizehn (!!!) seinen Selbstmord vor und beginnt mit gefälschter Identität ein neues Leben inkognito.

Da haben wir sie, die Unregelmäßigkeit des Lebens – das Verb mag regelmäßig sein, seine Bedeutung ist es nicht. Aus einer unzertrennlichen, homogenen Gruppe werden vier Einzelschicksale in eine Welt voller Gefahren und Verlockungen geschleudert. Die ursprünglich so klare Zukunft löst sich auf und macht einer Reise ins Ungewisse Platz, der die vier armen Seelen ausgeliefert sind wie Schiffbrüchige auf stürmischer See in einer mondlosen Nacht…

Wir sind niemand, wenn wir nicht zusammen sind. Zu viert sind wir eine Geschichte mit einem Anfang und einem im Dachbodendunkel geduldig erwarteten Ende. Einzeln sind wir Wörter, unbegreifliche Sätze. Was uns ausmacht, ist das Zurücklassen, das neu Anfangen, das Zurechtfinden und Verlorengehen. Wir müssen lernen, ich zu sein, und scheitern.

(Seite 728)

Aber was ist denn nun mit dem Warten? Hat es sich denn nun gelohnt? Zweifelsfrei und ohne Frage: JA! Einmal mehr beweist Rolf Lappert, was für ein grandioser Erzähler, was für ein unermüdlicher Romancier er ist. Nicht nur der schiere Umfang des Buches – bei dem keine Seite zu viel ist –, auch der Einfallsreichtum und das schriftstellerische Können des Autors ist mehr als beeindruckend. In einer reichen Sprache, die gerade zu Beginn an die Erzählkunst von Charles Dickens erinnert, nimmt Lappert seine Leserschaft an die Hand und führt sie sicher und strammen Schrittes durch seinen Kosmos. Tausend Seiten kommen natürlich schnell zusammen, wenn jedem der vier Charaktere genügend Raum zur Entwicklung gelassen werden soll. Hinzu kommt Lapperts Vorliebe, auch der kleinsten Nebenfigur eine komplette Lebensgeschichte auf den fiktiven Leib zu schneidern. (Das sind dann übrigens genau die Momente in denen man John Irving als Vergleich heranzitieren kann.) Komplexität erhält der Roman vor allem durch das parallele Erzählen der verschiedenen Lebenswege. Jede der Geschichten hat ihre eigene Atmosphäre, ihren eigenen Klang, und sie alle spielen zu unterschiedlichen Zeiten. Im letzten Teil verdichtet Lappert dann noch einmal das Geflecht und lässt neue Erzählstimmen erklingen, die das Geschehen weiterführen. Dennoch verliert man – da passt der Autor schon auf – beim Lesen nie den Halt, denn die bildhaften Szenen und gekonnt gesetzten Cliffhanger verhindern jeden Orientierungsverlust.

Vielleicht spricht ein bisschen der Bewunderer aus mir, aber ich kann es nicht anders sagen: Rolf Lappert hat mit LEBEN IST EIN UNREGELMÄSSIGES VERB ein Meisterstück vorgelegt, ein Werk epischen Ausmaßes voller Tragik und Tiefe, das dennoch nicht mit komischen Momenten geizt. Sicher kann ein Tausendseiter im Buchladen einschüchternd wirken, ich empfehle aber: Nehmt Euch die Zeit, es lohnt sich! Es ist das perfekte Buch für die kommenden Herbstabende. Bei manchen Kinofilmen gibt es doch den Ausspruch: »Genau für solche Geschichten wurde Kino erfunden.« Den Satz würde ich für mich gern auf diesen Roman ummünzen: »Genau für solche Geschichten lese ich.«


LEBEN IST EIN UNREGELMÄSSIGES VERB erschien im Hanser Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt Ihr zur Verlagseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet. Weitere Besprechungen findet beim Leseschatz und bei Sound&Books, die ebenfalls ganz angetan waren.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

6 Gedanken zu “Rolf Lappert | LEBEN IST EIN UNREGELMÄSSIGES VERB

  1. Nun freue ich mich nach deiner posititven Antwort zum langen Warten auf den neuen Lappert-Roman noch mehr aufs Lesen des „dicken Brockens“. Mein Lesen muss wohl noch warten bis zu den Herbstferien, wenn ich dranbleiben kann am Leben der Protagonisten.
    Viele Grüße, Claudia

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  2. Bin erst auf Seite 140 – und freue mich über jede freie Stunde zum Lesen. Das kenne ich bisher nur von wenigen Büchern. Köhlmeiers „Abendland“ oder „Das achte Leben“ von Haratschwili.

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