USA 2021 | 288 Seiten
OT: »The Netanyahus«
Aus dem Englischen von Ingo Herzke
Schöffling Verlag
ISBN: 978-3-89561-624-2
Mein Name ist Ruben Blum, und ich bin Historiker, jawohl, Historiker.
(Seite 7)
Zu den renommiertesten Preisen, die der amerikanische Literaturbetrieb zu vergeben hat, zählt seit mehr als hundert Jahren der Pulitzer Prize for Fiction. Ein Roman, der diese Auszeichnung bekommt, erreicht schlagartig weltweite Aufmerksamkeit, und seine Autorin oder sein Autor kann sich mit Größen wie Ernest Hemingway, Harper Lee und John Steinbeck in eine Reihe stellen. Im Mai 2022 wurde der Preis an den von mir hochverehrten Joshua Cohen vergeben, einen Autor, der in den vergangenen Jahren immer wieder als Wunderkind der amerikanischen Literatur etikettiert wurde. Besonders seine Romane BUCH DER ZAHLEN und WITZ gelten als Geniestreiche und wurden nicht selten mit Werken von Thomas Pynchon verglichen. Allerdings erfahren Bücher wie diese oft das Schicksal, von vielen gekannt aber von nur wenigen gelesen zu werden. Cohens Romane sind sperrig, fordern heraus und lassen die Lesenden nicht selten resignieren. Sein neues Buch DIE NETANJAHUS ist anders – einladender, lesbarer, verständlicher – und mit dem Pulitzer-Preis geadelt wird es zweifellos ein großes Publikum finden. Für diejenigen unter Euch, die noch gar nichts von Cohen gelesen haben, wäre dieser Roman ein perfekter Einstieg.
Die Idee für DIE NETANJAHUS hatte Cohen von einer Anekdote, die ihm der Literaturwissenschaftler Harold Bloom (1930-2019) mehrmals erzählte. Bloom empfing als junger Professor an der Cornell Universität im US-Bundesstaat New York einst den berühmten Historiker Benzion Netanjahu (1910-2012) zu einem Vorstellungsgespräch. Netanjahu hatte sich auf eine Dozentenstelle beworben und brachte zum Gespräch seine ganze Familie mit, die Bloom offenbar vulgär und unangenehm fand. Da sich die Einzelheiten der Anekdote bei jedem erneuten Erzählen etwas änderten – Bloom war schon sehr alt und die Begebenheit lag bereits ein halbes Jahrhundert zurück – lieh sich Cohen kurzerhand die Familie und erfand den ganzen Besuch neu.
Im Roman ist es nun das Corbin College in dem der Professor Ruben Blum Ende der 1950er Jahre den israelischen Historiker empfängt. Dieser kommt unerwarteterweise mit seiner Frau Tzila und seinen drei Söhnen Jonathan, Benjamin und Iddo, die über das Privathaus der Blums herfallen wie eine Plage. Tzila hat ein deutliches Alkoholproblem, ist mürrisch, unhöflich und steht allen Amerikanern feindselig gegenüber; die präpubertären Söhne sind wie wilde Tiere ohne jegliche Erziehung oder irgendeine Vorstellung von Zurückhaltung. Während Vater Benzion am College erste Seminare gibt – und sich dort mit großem Eifer mit den Studierenden anlegt –, nehmen die Netanjahus Blums Haus auseinander.
Neben der Balance aus Campusroman und Slapstickkomödie – zwei Genres, die Joshua Cohen hervorragend beherrscht – bezieht der Text sein Feuer natürlich aus den Figuren der Gastfamilie. Die Anekdote selbst mag zu großen Teilen erdacht und übertrieben sein – die Netanjahus sind es nicht. Cohen hätte sich für das Buch keine umstrittenere Sippschaft aussuchen können, denn die Netanjahus wirken in Amerika genauso polarisierend wie die Trump-Familie. Insbesondere dem mittleren Sohn Benjamin, der trotz laufender Verfahren wegen Korruption und Vorteilsnahme aktuell zum dritten Mal als rechtspopulistischer Hardliner Premierminister Israels ist, wird seine Darstellung in Cohens Roman nicht schmecken. Es ist also ein heikles Buch, das durch den Pulitzer-Preis ins Visier mächtiger Männer geraten könnte. Eine Übersetzung ins Hebräische lehnen die großen israelischen Verlage nach wie vor ab – der Inhalt ist zu spöttisch, die Angst vor rechtlichen Schritten von ganz oben zu groß.
Im Untertitel des Romans heißt es, er sei ›vielmehr ein Bericht über ein nebensächliches und letztlich sogar unbedeutendes Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie‹. Während des Schreibens konnte Joshua Cohen freilich nicht mit der Aufmerksamkeit, die ihm jetzt gewidmet wird, rechnen, doch nun wirkt der Untertitel wie die Untertreibung des Jahrzehnts – nebensächlich und unbedeutend ist in diesem Roman rein gar nichts.
Große Leseempfehlung!
DIE NETANJAHUS erschien in der Übersetzung von Ingo Herzke im Schöffling Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.
Diese Rezension erscheint im März auch in der Zeitschrift LESART Ausgabe 1/2023.
Eine kleine Bitte noch: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.