Mirko Bonné | SEELAND SCHNEELAND

D 2021 | 444 Seiten
Schöffling & Co.
ISBN: 978-3-89561-410-1

Dort, wo wir hingehen, gibt es Bäume, die höher sind als die allerhöchsten Häuser auf der Welt.

(Seite 9)

Wales vor hundert Jahren – sicher nicht die traumhafteste Gegend. Triste Landschaft, schlechtes Wetter; auf dem Land nur Matsch und Dung, in der Stadt nur Dreck und Rauch. Auch die Greuel des Weltkrieges und die Folgen der Spanischen Grippe sind noch deutlich spürbar. Doch die tapferen Waliser nehmen das Leben wie es kommt und machen das beste daraus. Und wem das nicht reicht – wer höhere Ambitionen hat als den bloßen Lebensunterhalt –, der wandert aus. So wie Ennid Muldoon, eine junge Frau, die von Erfolg und einem besseren Leben träumt, alles Dinge, die ihr das enge Wales nicht bieten kann. Sie kappt ihre Wurzeln und verlässt ihre Heimat per Schiff nach Amerika, dem Land der Verheißungen. Doch wegen eines gewaltigen Schneesturms muss das Schiff – die Sealand – den Kurs ändern und anstatt direkt über den Atlantik zu fahren, macht es Halt in Rotterdam und Hamburg, um dann nördlich der britischen Inseln den Sturm zu umgehen.

Einer der Menschen, die Ennid in Wales zurücklässt, ist Merce Blackboro, ihr Freund aus Kindertagen, der schon lange mehr für sie empfindet als bloße Freundschaft. Während des Krieges war er an Bord der Endurance, dem Schiff der dramatischen Antarktis-Expedition von Ernest Shackleton. Merce ist also ein junger Mann, der dem Tod ins Auge geblickt und überlebt hat. Als er erfährt, dass Ennids Schiff trotz der Kursänderung in Seenot gerät und im eisigen Meer auf eine Katastrophe zusteuert, macht er sich auf den Weg in den kalten Norden, um die Liebe seines Lebens zu retten.


Mirko Bonné (*1965) schreibt in SEELAND SCHNEELAND die Geschichte eines alten Bekannten weiter, denn Merce Blackboro war bereits die Hauptfigur in seinem Roman DER EISKALTE HIMMEL (Schöffling, 2006), damals als blinder Passagier auf der bereits erwähnten Shackleton-Expedition. Ganz so aufregend geht es hier nicht zu, im Gegenteil, Bonnés neuer Roman ist dagegen eher ein Schneckenrennen in Zeitlupe. Natürlich passt es zur erzählten Zeit – Jahrzehnte bevor der Fernseher Einzug in die Wohnzimmer hält und alle per Smartphone sekundenaktuell am Weltgeschehen teilnehmen können –, dass man der Geschichte das Tempo nimmt. Im ländlichen Wales von vor hundert Jahren kann es schonmal ein paar Tage dauern, bis die News ins Haus flattern. Dennoch ist die von Bonné angeschlagene Langsamkeit heutzutage dermaßen ungewohnt – und auch etwas aus der Mode gekommen –, dass die Lektüre zu einem kräftezehrenden Ausdauerlauf wird.

Richtig stark ist Bonné bei der Ausarbeitung seiner Charaktere. Jede Figur, bis hin zur kleinsten Nebenrolle, ist wunderbar beschrieben, hat eine Geschichte, hat Sorgen, Wünsche und Fehler. Ich bin mir sicher, wenn man den Autor nachts um drei anriefe und fragte, wo der Schiffskoch der Sealand aufgewachsen sei, die Antwort käme wie aus der Pistole geschossen. Eine der schillerndsten Figuren ist die des extrovertierten Multi-Millionärs Diver Robey, der sich ebenfalls an Bord der Sealand befindet. Als er bemerkt, dass der Kapitän und seine Mannschaft der Havarie nichts entgegenzusetzen haben, kauft er per Funktelegramm kurzerhand das Schiff – eine der schnellsten Aktionen im ganzen Buch –, übernimmt das Kommando und bietet jedem Helfer in der Not einen großzügigen Scheck. Allein über diesen Mann ließe sich ein eigener Roman schreiben.

Die vielschichtigen Charaktere können aber nicht über die Schwächen im Aufbau der Geschichte hinwegtäuschen. Auch wenn alles sehr gekonnt in Szene gesetzt ist – Mirko Bonné ist ohne Zweifel ein Autor, der sein Handwerk versteht –, hatte ich nach dem ersten Viertel schon das ungute Gefühl, dass der Roman ebenso orientierungslos auf hoher See treibt, wie das Schiff, auf dem er spielt. Bonné lässt sich soviel Zeit mit allem, dass man als Leser den Fokus verliert. Eigentlich besteht der Roman aus einer Aneinanderreihung von Begegnungen, Entscheidungen und Fehlgriffen. Es fehlen Wendungen, Höhepunkte und so etwas wie ein Showdown – alles Dinge, die die Story ohne Weiteres hergäbe … oder sie waren so langsam erzählt, dass ich sie nicht mitbekommen habe.

SEELAND SCHNEELAND ist gut geschrieben, mit viel Herz für die Figuren und sicherem Blick für das Setting, aber mit großen und schmerzhaften Abzügen in Sachen Tempo und Aufbau. Für mich war die Lektüre eher Krampf als Genuss.


SEELAND SCHNEELAND erschien im Schöffling Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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