D 2021 | 334 Seiten
Schöffling & Co.
ISBN: 978-3-89561-157-5
»Nicht deine Zeit.«
(Seite 11)
Als Bahnpendler kenne ich dieses unschöne Gefühl, wenn der Zug auf scheinbar freier Strecke plötzlich ohne Vorwarnung stark abbremst. Eben noch ist alles in bester Ordnung: Du bist noch ein bisschen schläfrig, vielleicht auch etwas verkatert; das tiefe Brummen der Motoren und die leisen Gespräche von der Sitzbank vor dir schenken friedliche Geborgenheit; du willst eigentlich lesen, aber deine Augen fallen immer wieder zu; vor den Fenstern erwacht das Mecklenburger Flachland in nebeligem Dämmerlicht aus seinem Schönheitsschlaf; und deine größte Angst besteht darin, dass du die Haltestelle verpennst.
Und dann ist alles anders: Es kreischt von den Gleisen; es zischt und faucht aus irgendwelchen Maschinen, die hinter Kunststoffpanelen in der Wand versteckt sind; Koffer poltern durch die Gänge; Kaffebecher kippen um und ergießen ihren Inhalt über die Schöße der Reisenden; jemand brüllt laut auf, ob vor Angst, Schmerz oder Schreck, bleibt unklar; und du rutschst im Sitz nach vorn, als hätte Hulk dich geschubst, oder wirst wie von Titanenhand in die Rückenlehne gedrückt, je nachdem wie du dich hingesetzt hast, als noch alles in Ordnung war. Und auch wenn es nur ein paar Sekunden dauert und der Zug die Reise dann fortsetzt, als sei nichts gewesen, bist du hellwach und dir sind in diesen kurzen Momenten hundert Dinge durch den Kopf gegangen. »Ein anderer Zug! Direkt auf uns zu! Genau in uns rein! Hier wird’s gleich eng! Das war’s! Adieu schöne Welt, du warst gut zu mir! Aufprall und Ende in 3… 2… 1…«
Passiert nicht oft, und wenn, dann auch selten so heftig, aber es kommt vor. Eine richtige Vollbremsung mit allem Drum und Dran habe ich nur ein Mal erlebt, InterCity von Bremen Richtung Osnabrück, von 160 auf Null in … keine Ahnung … die Zeit bis zum Stillstand war wahrscheinlich viel länger als ich schätzen würde und deutlich kürzer als sie mir vorkam. Muss ich nicht nochmal haben.
Weiterlesen »