Jürgen Teipel | ABER ICH KANN FLIEGEN

D 2024 | 224 Seiten | 24 Euro
Schöffling Verlag
ISBN: 978-3-89561-619-8

Die Tür zum Kinobalkon war zum Glück nicht abgesperrt.

(Seite 5)

Vor über zwanzig Jahren erschien der dokumentatorische Roman VERSCHWENDE DEINE JUGEND über die deutsche Punk- und New Wave-Szene der späten siebziger und frühen achtziger Jahre. Das Buch erlangte in kurzer Zeit Kultstatus, löste eine neue Begeisterungswelle des etwas eingestaubten Genres aus und sein Autor Jürgen Teipel wurde zum Papst des musikalischen Undergrounds. Über die wilde Zeit der Veröffentlichung – aber auch über den Weg dorthin und die Erlebnisse danach – hat Teipel nun einen autofiktionalen Roman geschrieben, in dem er tief blicken lässt.

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Jana Scheerer | DIE RASSISTIN

D 2024 | 224 Seiten | 22 Euro
Schöffling Verlag
ISBN: 978-3-89561-353-1

Auch wenn die hier untersuchten Ereignisse etwas anderes nahelegen, wäre es falsch, Nora Rischer einen grundsätzlichen Mangel an Achtsamkeit, Rücksicht oder Empathie zu attestieren.

(Seite 17)

Das kennen wir wohl alle: Eine kleine, unbedachte Bemerkung, gar nicht mal böse gemeint, und jemand fühlt sich beleidigt, angegriffen oder gar diskriminiert. Die Anschuldigung zieht ihre Kreise, man fühlt sich mies und denkt tagelang darüber nach, wie man nur so missverstanden werden konnte. Die Gedanken drehen durch, man kommt sich vor wie auf der Anklagebank und möchte die Bemerkung am liebsten rückgängig machen. Und je nachdem, welche Ausmaße die Welle der Empörung nimmt, hat man große Angst vor einem rufschädigenden Shitstorm. Genau das passiert Nora Rischer, der Ich-Erzählerin in Jana Scheerers neuem Roman DIE RASSISTIN.

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Susan Kreller | SALZRUH

D 2023 | 272 Seiten
Schöffling Verlag
ISBN: 978-3-89561-029-5

Sie steht am Fenster des Frühstücksraums, den Leib gespannt, und nur die trübe Scheibe trennt sie noch vom Wald, der Garten bloß, das braune Bündel Ackerfurchen.

(Seite 7)

Kleine Anekdote: Als gaaanz junger Mann war ich mit meiner damaligen Freundin mal im Harz unterwegs – kein Auto, kaum Geld und weit weg von den Eltern. Eigentlich wollten wir einen Zeltplatz erreichen, ein heftiges Gewitter zwang uns aber, die Nacht in einer kleinen Pension mitten im Nirgendwo zu verbringen. Das Haus war heruntergekommen und roch nach Staub, überall hingen vergilbte Häkeldeckchen und in den Regalen saßen starr glotzende Püppchen aus angeschlagenem Porzellan. Die Wirtin war uralt, hexenhaft unheimlich und von einschüchternder Strenge. Sie wollte uns kein Doppelzimmer geben, weil wir nicht verheiratet waren, verwehrte meiner Freundin ein Glas kalte Milch, weil das ungesund sei, und kommentierte beim Frühstück am nächsten Morgen keifend unsere Essgewohnheiten (»Die Butter wird geschmiert, nicht gekratzt!!!«).

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Mirko Bonné | ALLE UNGEZÄHLTEN STERNE

D 2023 | 336 Seiten
Schöffling Verlag
ISBN: 978-3-89561-348-7

So endet alles.

(Seite 7)

Eine der unumstößlichen Tatsachen unseres Lebens ist es, dass wir den Tag unseres Todes nicht wissen, dass wir nie damit rechnen können, wieviel Zeit genau uns noch bleibt. Ob das eine Ungerechtigkeit oder ein Segen ist, darüber kann man bis in philosophische Sphären streiten. Wenn wir es wüssten, was würden wir dann tun? Würden wir unser Leben ändern, bestimmte Dinge besser oder anders machen? Würden wir noch etwas Großes erreichen wollen oder die uns beschiedene Zeit einfach in Ruhe genießen? Benno Romik – der Ich-Erzähler in Mirko Bonnés neuem Roman ALLE UNGEZÄHLTEN STERNE – nutzt die Technik der Künstlichen Intelligenz, um sich seine Restlebenszeit errechnen zu lassen. Das ernüchternde Ergebnis: Siebzehn Tage.

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Anselm Oelze | PANDORA

D 2023 | 464 Seiten
Schöffling Verlag
ISBN: 978-3-89561-134-6

Der Anruf kam zur Unzeit.

(Seite 9)

Was ich total mag, sind Geschichten, in denen völlig unterschiedliche Charaktere auf verschiedenen Wegen auf ein gemeinsames Schicksal zusteuern. Ein Hollywood-Film, der diese Erzählweise in Perfektion darbietet, ist P. T. Andersons Drei-Stunden-Epos MAGNOLIA, den ich auch nach über zwanzig Jahren und dutzenden Durchläufen immer noch als ein grandioses Meisterwerk feiere. Anselm Oelze hat sich für seinen neuen Roman dieser Art der Konstruktion bedient und liefert mit PANDORA ein ambitioniert komplexes Buch, das stark beginnt und endet, im Mittelteil aber deutliche Durchhänger hat.

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Mathilda Prall | HERZNEUROSEN

D 2023 | 336 Seiten
Schöffling Verlag
ISBN: 978-3-89561-103-2

Minis Körper kommt zur Ruhe. Ihr wird schwer. Ihr ist mehr kalt als warm und morgens wacht sie müder auf, als sie abends schlafen geht. Jeden Tag ein bisschen schlapper.

(Seite 6)

Als Ende des letzten Jahres nach und nach die Vorschauen für die Frühjahrsprogramme bei mir eintrudelten, blieb ich beim Prospekt des Schöffling Verlages bei einem Buch hängen. Gut, das ist jetzt nichts Außergewöhnliches; wenn mir das nicht Dutzende Male im Jahr passierte, gäbe es auf diesem Blog recht wenig über Neuerscheinungen zu lesen. Der Grund meiner Wahl in diesem Fall aber war weder die Story des Buches oder der Name der Autorin, noch das Cover. Worüber ich stolperte, war eine kleine Information über die Schriftstellerin: geboren in Rostock. Es war also ein Hometown-Buddy-Kauf! Das hatte ich das letzte Mal bei Katharina Höftmann Ciobotarus ALEF. Egal also, worum es geht, dieser Roman musste gelesen werden.

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Joshua Cohen | DIE NETANJAHUS

USA 2021 | 288 Seiten
OT: »The Netanyahus«
Aus dem Englischen von Ingo Herzke
Schöffling Verlag
ISBN: 978-3-89561-624-2

Mein Name ist Ruben Blum, und ich bin Historiker, jawohl, Historiker.

(Seite 7)

Zu den renommiertesten Preisen, die der amerikanische Literaturbetrieb zu vergeben hat, zählt seit mehr als hundert Jahren der Pulitzer Prize for Fiction. Ein Roman, der diese Auszeichnung bekommt, erreicht schlagartig weltweite Aufmerksamkeit, und seine Autorin oder sein Autor kann sich mit Größen wie Ernest Hemingway, Harper Lee und John Steinbeck in eine Reihe stellen. Im Mai 2022 wurde der Preis an den von mir hochverehrten Joshua Cohen vergeben, einen Autor, der in den vergangenen Jahren immer wieder als Wunderkind der amerikanischen Literatur etikettiert wurde. Besonders seine Romane BUCH DER ZAHLEN und WITZ gelten als Geniestreiche und wurden nicht selten mit Werken von Thomas Pynchon verglichen. Allerdings erfahren Bücher wie diese oft das Schicksal, von vielen gekannt aber von nur wenigen gelesen zu werden. Cohens Romane sind sperrig, fordern heraus und lassen die Lesenden nicht selten resignieren. Sein neues Buch DIE NETANJAHUS ist anders – einladender, lesbarer, verständlicher – und mit dem Pulitzer-Preis geadelt wird es zweifellos ein großes Publikum finden. Für diejenigen unter Euch, die noch gar nichts von Cohen gelesen haben, wäre dieser Roman ein perfekter Einstieg.

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Sascha Reh | RASEREI

D 2022 | 240 Seiten
Schöffling Verlag
ISBN: 978-3-8956-1084-4

Obwohl er besser Italienisch spricht als Vera – sicherer in der Grammatik, mit größerem Wortschatz –, ist meistens sie es, die das Reden übernimmt.

(Seite 9)

Jonas und Vera betreiben einen Reiseblog, der sie oft an interessante Orte führt. Unterstützt von Gutscheinen aller Art, genießen sie mit ihren Kindern – den jungen Zwilligen Enno und Mats – Urlaubswochen in Gegenden weitab von Massentourismus. Doch am Ende ihrer letzten Reise – einer beschwerlichen Fahrt von Süditalien zurück nach Berlin; schon kurz vor der Haustür – passiert ein Unglück, das das Familienglück von Grund auf zerstört.

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Joshua Cohen | WITZ

USA 2010 | 912 Seiten
OT: »Witz«
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach
Schöffling & Co.
ISBN: 978-3-89561-629-7

Am Anfang kommen sie zu spät.

(Seite 13)

Liebe Gemeinde, Ihr Brüder und Schwestern der ›Kirche von Joshua Dem Gnädigen Erlöser‹ – Wir beten Dich an, gepriesen sei Dein Name bis in alle Ewigkeit! –, Ihr lasset seit vielen Monden den Kopf hängen ob der langen Zeit, die seit der letzten Kunde unseres Propheten verstrichen ist, und es schmerzt mich wahrhaft, Euch so zu sehen. Doch Halleluja! und Hosianna! meine Freunde, ich habe frohe Botschaft zu verkünden, denn unsere Gebete wurden erhört – WITZ steht seit heute in den Buchläden des Landes, um Euch treue Seelen wieder glücklich zu machen! Endlich ist die Übersetzung beendet, die Translation vollbracht, der Text auf Papier gebannt und zwischen farbenfrohe Buchdeckel gebunden worden, großformatig und edel in der Qualität. Endlich könnt Ihr Sein Wort empfangen, vorbei die Zeit von lahmem Kram und öder Schnödnis, denn unser Prophet höchstselbst – Wir beten Dich an, oh Joshua, gepriesen sei Dein Name bis in alle Ewigkeit! – reicht uns Seine Hand, um uns zu führen in eine Welt, wie wir sie seit Dekaden nicht mehr betreten haben. Mir wurde die große Ehre zuteil, Sein Wort vorab schon studieren zu dürfen, um es heute für Euch ausgehungerten Empfänger Seiner Weisheiten in ein paar Sätzen vorstellen zu können, eine Aufgabe, die mich in den vergangenen Wochen allzeit in Ehrfurcht erstarren ließ. Doch bevor ich die Kunde unseres Messias – Wir beten Dich an, oh Joshua, gepriesen sei Dein Name bis in alle Ewigkeit! – für Euch zusammenfasse, möchte ich eine kleine Geschichte erzählen, die mir während der Lektüre eines Abends wieder einfiel…

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Gert Loschütz | BESICHTIGUNG EINES UNGLÜCKS

D 2021 | 334 Seiten
Schöffling & Co.
ISBN: 978-3-89561-157-5

»Nicht deine Zeit.«

(Seite 11)

Als Bahnpendler kenne ich dieses unschöne Gefühl, wenn der Zug auf scheinbar freier Strecke plötzlich ohne Vorwarnung stark abbremst. Eben noch ist alles in bester Ordnung: Du bist noch ein bisschen schläfrig, vielleicht auch etwas verkatert; das tiefe Brummen der Motoren und die leisen Gespräche von der Sitzbank vor dir schenken friedliche Geborgenheit; du willst eigentlich lesen, aber deine Augen fallen immer wieder zu; vor den Fenstern erwacht das Mecklenburger Flachland in nebeligem Dämmerlicht aus seinem Schönheitsschlaf; und deine größte Angst besteht darin, dass du die Haltestelle verpennst.

Und dann ist alles anders: Es kreischt von den Gleisen; es zischt und faucht aus irgendwelchen Maschinen, die hinter Kunststoffpanelen in der Wand versteckt sind; Koffer poltern durch die Gänge; Kaffebecher kippen um und ergießen ihren Inhalt über die Schöße der Reisenden; jemand brüllt laut auf, ob vor Angst, Schmerz oder Schreck, bleibt unklar; und du rutschst im Sitz nach vorn, als hätte Hulk dich geschubst, oder wirst wie von Titanenhand in die Rückenlehne gedrückt, je nachdem wie du dich hingesetzt hast, als noch alles in Ordnung war. Und auch wenn es nur ein paar Sekunden dauert und der Zug die Reise dann fortsetzt, als sei nichts gewesen, bist du hellwach und dir sind in diesen kurzen Momenten hundert Dinge durch den Kopf gegangen. »Ein anderer Zug! Direkt auf uns zu! Genau in uns rein! Hier wird’s gleich eng! Das war’s! Adieu schöne Welt, du warst gut zu mir! Aufprall und Ende in 3… 2… 1…«

Passiert nicht oft, und wenn, dann auch selten so heftig, aber es kommt vor. Eine richtige Vollbremsung mit allem Drum und Dran habe ich nur ein Mal erlebt, InterCity von Bremen Richtung Osnabrück, von 160 auf Null in … keine Ahnung … die Zeit bis zum Stillstand war wahrscheinlich viel länger als ich schätzen würde und deutlich kürzer als sie mir vorkam. Muss ich nicht nochmal haben.

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