D 2007 | 780 Seiten
Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-20913-8
»Heute vor einem Jahr, am 18. April 2001, starb Carl Jakob Candoris. Er wurde fünfundneunzig Jahre alt.« (Seite 13)
INHALT: Am Ende seines langen, bewegten Lebens bittet der Mathematikprofessor Carl Jakob Candoris den Schriftsteller Sebastian Lukasser, seine Lebensbeichte niederzuschreiben. Die Geschichten der beiden sind eng miteinander verwebt, war Carl es doch, der Sebastians Vater, den legendären Jazzgitarristen Georg Lukasser, im Wien der Nachkriegszeit entdeckt, gefördert und zu Ruhm und Ehre gebracht, und sich nach dessen Suizid um den verwaisten Sebastian gekümmert hatte.
Carl lädt Sebastian zu sich nach Lans bei Innsbruck ein, wo er von seiner Haushälterin gepflegt wird. Die beiden verbringen einige Tage mit Notizblock und Diktiergerät und es entsteht ein umfassendes Panorama des 20. Jahrhunderts. Carl kann auf ein Leben voller Erfolge und Abenteuer zurückblicken, berichtet von Begegnungen mit Persönlichkeiten wie Edith Stein, Robert Oppenheimer und Emmy Noether, von seinem Auslandsstudium in Moskau vor, und seiner Arbeit in Amerika während des Zweiten Weltkrieges. Sein Beruf bringt ihn auch ins zerbombte Japan und seine Familiengeschichte treibt ihre Wurzeln bis in die deutschen Afrika-Kolonien.
Sebastian ist bei Weitem nicht in Carls Alter, mit Anfang fünfzig aber auch nicht mehr der Jüngste. Er laboriert gerade an den Nachwirkungen einer Prostataoperation, hat nach zwanzig Jahren zum ersten Mal seinen Sohn wiedergesehen und kann, was Lebenserfahrung angeht, auch selbst aus dem Vollen schöpfen. Seine Geschichte ist die eines Suchenden und Scheiternden. Sie beginnt in den 1950er Jahren und umfasst Aufenthalte in Europa, Süd- und Nordamerika und mehrere intensive Beziehungen.
Da die Biographie Carls nicht ohne die eigene funktioniert und umgekehrt, lässt Sebastian ein Doppelporträt entstehen, das beide Hälften des 20. Jahrhunderts abdeckt.
FORM: Der Roman ist in der Ich-Form aus Lukassers Perspektive geschrieben. Jede Geschichte aus Candoris‘ Leben ist durchzogen von Eindrücken und Ergänzungen Lukassers. Einige Anekdoten werden auch mehrmals aus verschiedenen Blickwinkeln oder mit unterschiedlichen Wissensstand erzählt. Auf Chronologie wird nur bedingt geachtet; ein roter Faden zieht sich wohl durch die Jahrzehnte, es wird aber munter hin- und hergesprungen.
Köhlmeier schreibt mit einer Freude am Erzählen, die man in jedem Satz spürt. Die oft seitenlangen Absätze sind geprägt von einer üppigen Fabulierlust, gewürzt mit feinem Humor. Großartig sind auch die Charakterzeichnungen. Bei seinen Figuren, deren Namen er oft schon ein paar Seiten vor ihrem eigentlichen Auftritt fallen lässt, geht Köhlmeier schnell in die Tiefe und hält sich nicht unnötig lange an der Oberfläche auf, was ich für die größte Stärke des Romans halte. Hier ein kleines Beispiel:
»Er war klein und mager, sein Overall schlotterte an ihm, und ich war mir nicht sicher, wie alt ich ihn schätzen sollte; er konnte Ende Zwanzig sein, aber auch Mitte Vierzig. Wenn er redete, wirkte er jünger, wenn er zuhörte, älter. Er hatte schütteres, glattes Haar, lang und fettig und irgendwie blond; ein männliches Kinn, das nicht zu der Unterwürfigkeit seiner Gesten paßte. Seine Lippen waren aufgeplatzt, oben fehlten ihm rechts und links Zähne. Er ließ mich nicht aus den Augen, und sein Blick hatte etwas Nachrechnendes, als suchte er in allem, was ich tat und sagte, eine Bestätigung für ein bereits gefaßtes Urteil.« (Seite 562)
FAZIT: Ich kannte Köhlmeier bisher nur durch ein paar längere Erzählungen und hatte mich im Vorfeld sehr auf ABENDLAND gefreut. Die Freude währte beim Lesen auch lange; ich bekam genau das, was ich erwartet hatte. Allerdings stellte sich nach etwa drei Vierteln des Romans eine Art Sättigung ein, wie ich sie selten bei einem Buch verspüre, das mir offenkundig gefällt. Ich dachte, noch so eine Episode und ich platze, zu üppig das Ganze … wie beim Eisbein essen: Es ist wunderbar, aber es geht irgendwann einfach nichts mehr rein. Das letzte Viertel habe ich mir mehr oder weniger reingequält, was nach so vielen grandiosen Seiten sehr schade ist. Ich möchte Köhlmeier das auch nicht in Rechnung stellen, kann aber nicht umhin, ABENDLAND dafür einen Stern abzuziehen. Mit einer ganz dicken Leseempfehlung weise ich darauf hin, dass die verbleibenden vier Sterne mehr als verdient sind. Allein schon für Sätze wie diesen:
»Alles, was man tut, tut man für sich selbst; wenn dabei auch etwas für einen anderen rausspringt, ist das ein Zufall; wenn man es dabei beläßt, und den Zufall nicht stört, ist man ein guter Mensch.« (Seite 641)
[…] machte mich leider schon nach zwei Dritteln des Buches satt, ein Gefühl, das ich seit Köhlmeiers ABENDLAND nicht mehr hatte. Deswegen bin ich bei der Bewertung von NACHTLEUCHTEN auch sehr zwiegespalten. Ich […]
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