Catherine Lacey | NIEMAND VERSCHWINDET EINFACH SO

USA 2014 | 266 Seiten
OT: »Nobody Is Ever Missing«
Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell
Aufbau Verlag
ISBN: 978-3-351-03680-5

Vielleicht gibt es Menschen auf der Welt, die, ohne es zu wollen, Gedanken lesen können, und wenn so eine Sorte Mensch existiert, dann gehört mein Mann mit ziemlicher Sicherheit dazu. (Seite 7)

INHALT: Aus einem Impuls heraus verlässt Elyria (28) ihren Ehemann und fliegt ohne jede Erklärung oder auch nur ein Wort des Abschieds nach Neuseeland, um dort ein neues Leben zu beginnen. Wie denn genau dieser Restart vonstatten gehen soll, soweit kam sie mit ihren Plänen noch nicht, sie wusste nur: Sie musste weg. Dabei sah es um ihr Leben gar nicht so schlecht bestellt aus – Wohnung in der noblen Upper West Side, guter Job als Drehbuch-Autorin, ihr Mann: Professor für Mathematik – dennoch nagte etwas jahrelang an ihr, ein wildes Biest in den Tiefen ihres Herzens, das sich mit seinen Krallen einen Weg hinausgrub.

In Neuseeland angekommen, hat Elyria viel Zeit, sich über ihr Leben und ihre Rolle darin klarzuwerden. Sie trampt, schläft in verlassenen Scheunen, arbeitet für wenig Geld, schließt Bekanntschaften und löst sie wieder. In all den Wochen und Monaten bohren sich die Gedanken immer tiefer und tiefer durch ihre Brust zu dem Biest in ihrem Innern. Woher kommt es? Hat jeder eines? Was machen die anderen, um es im Zaum zu halten? Die Erkenntnisse sind komplex und überwältigend. Alles ist eng mit ihrer Familie verwoben, mit ihrer alkoholabhängigen Mutter, die ihr stets nur Missachtung entgegenbrachte, und mit ihrer Adoptivschwester, die in jungen Jahren Selbstmord beging. Und vor allen Dingen: Ihr Neubeginn bedeutet nicht Freiheit, sondern Flucht, denn niemand verschwindet einfach so.

Ein Unfall bringt die neuseeländischen Behörden auf den Plan, die schnell erkennen, dass Elyrias Visum längst abgelaufen und sie in New York schon als vermisst gemeldet ist. Elyria wird psychologisch behandelt, eine Sitzung, in der sie nochmals mit ihrem Biest konfrontiert wird. Dann wird sie nach Hause geschickt, wo sie sich ihrem Mann und ihrer Familie stellen muss – eine Aufgabe, der sie nicht gewachsen scheint.

FORM: Catherine Lacey (*1985) ist mit ihrem Debütroman ein aufrichtiges Psychogramm gelungen, dass sehr tief in ihre Protagonistin blicken lässt. Und mit aufrichtig meine ich, dass es sich hier nicht um ein Herzschmerzbuch handelt, in der eine Spätpubertäre in romantischer Melancholie badet, sondern um eine genaue Analyse einer jungen Frau mit massiven Belastungs- und Empfindungsstörungen. Es ist ein Text, der sich mit den großen Fragen unserer Zeit beschäftigt: Mache ich alles richtig? Werde ich gebraucht? Wird man sich an mich erinnern? Das Besondere an Laceys Stil ist, dass sie die wirklich harten Gedanken, die echten Abgründe, die sich in jedem von uns auftun, gar nicht groß benennt. Was da alles zwischen den Zeilen brodelt und unter der Oberfläche köchelt, ist schwer zu ertragen. Manche Stellen reißen einen so dermaßen runter, sind so deprimierend, dass man das Buch erstmal zuklappen muss, um nicht völlig die Hoffnung aufzugeben.

Die Sätze sind oft labyrinthisch und schlängeln sich assoziativ durch ein Gemisch aus Erlebtem und Gedachtem, ohne auf eine einfache Sprache zu verzichten, was mir sehr gut gefiel. Der einzige Kritikpunkt, der sich besonders zum Ende des Romans deutlich zeigt, ist die Eindimensionalität sowohl der Hauptfigur als auch der ganzen Geschichte. Sicher: Elyria hat Tiefe und erlangt auch Erkenntnisse, sie entwickelt sich aber trotzdem kaum und steht am Ende wieder dort, wo sie anfangs stand. Und die Geschichte drumherum ist trotz der vielen Nebencharaktere doch weitestgehend monothematisch – eine One-Woman-Show von Anfang bis zum Ende. Nach über 260 Seiten war mir das ein bisschen zu viel Elyria.

FAZIT: Trotz der Einwände – Catherine Lacey kann schreiben, kein Zweifel. Und wenn ihr neuer Roman (OT: »The Answers«) erscheint, wäre ich der Lektüre nicht abgeneigt. Für NIEMAND VERSCHWINDET EINFACH SO vergebe ich vier Sterne plus Leseempfehlung … allerdings – und das meine ich keineswegs despektierlich – nur für Menschen, die nicht ohnehin schon mit Depressionen zu kämpfen haben.


Bei letteratura gab es bereits eine gute Besprechung des Romans. Schaut mal rein.

Ich danke dem Aufbau-Verlag für das Rezensionsexemplar. Alle weiteren Informationen über den Roman findet Ihr hier.

3 Gedanken zu “Catherine Lacey | NIEMAND VERSCHWINDET EINFACH SO

    • Romane, die polarisieren, sind meist die interessanteren. Einstimmigen Lobeshymnen traue ich selten über den Weg … gibt natürlich auch Ausnahmen.
      Liebe Grüße aus Rostock (und danke fürs Folgen)! Bookster HRO

      Gefällt 1 Person

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