John Irving | DER LETZTE SESSELLIFT

USA 2022 | 1088 Seiten
OT: »The Last Chairlift«
Aus dem amerikanischen Englisch von

Anna-Nina Kroll und Peter Torberg
Diogenes Verlag
ISBN: 978-3-257-07222-8

Meine Mutter gab mir den Namen Adam, Sie wissen schon, nach wem.

(Seite 15)

Die lange Zeit des Wartens ist vorüber: Mit über achtzig Jahren hat der Bestsellerautor John Irving seinen mittlerweile fünfzehnten Roman veröffentlicht, der mit über tausend Seiten selbst für seine Verhältnisse sehr umfangreich geraten ist. Mit einer solchen Seitenzahl kann DER LETZTE SESSELLIFT mit Klassikern wie MOBY DICK mithalten, dem Roman, der Irvings Ich-Erzähler Adam Brewster als Kind Seite für Seite in einem Jahre währenden Aufwand vorgelesen wurde. Ob Irvings neuestes Buch selbst das Zeug zum Klassiker hat, bleibt abzuwarten, eine epische Familiengeschichte mit den typischen Zutaten ist ihm in jedem Fall gelungen.


Die Brewsters aus der Kleinstadt Exeter im US-Bundesstaat New Hampshire sind eine Familie der besonderen Art. Rachel Brewster ist Skilehrerin und bringt von einem Wettbewerb in Aspen, Colorado, Anfang der 1940er-Jahre zwar keinen Sieg mit nach Hause, dafür aber eine Schwangerschaft. Adam – der in vielen Belangen seinem Schöpfer Irving ähnelt – wächst ohne Vater zwischen lauter Frauen auf. Seine wichtigsten Bezugspersonen – neben seiner Mutter – sind die Großmutter und seine lesbische Cousine Nora. Doch auch sein Englischlehrer Elliot Barlow liegt ihm am Herzen, so sehr, dass er ihn mit seiner Mutter verkuppelt. Die beiden körperlich sehr klein geratenen Menschen heiraten tatsächlich, entwickeln sich in den Folgejahren jedoch in sexuell unterschiedliche Richtungen. Während Mutter Ray ihr Leben lieber mit ihrer Freundin Molly verbringt, entdeckt Elliot seine weibliche Seite. Bemerkenswert ist der Zusammenhalt dieser bunten Familie, der auch in den schwierigsten Zeiten nie nachlässt.

Auf den ersten Blick wirkt DER LETZTE SESSELLIFT wie eine Neuverwertung seiner altbekannten Themen – die Suche nach einem Vater, unkonventionelle Familienkonstrukte, das Leben als Schriftsteller, sogar Bären und das geliebte Österreich kommen wieder vor. Doch die Ernsthaftigkeit, mit der Irving gerade in der zweiten Hälfte seines Romans mit der US-amerikanischen Politik ins Gericht geht, ist neu. Besonders die Ära Ronald Reagans nimmt der Autor ins Visier und stellt deren erzkonservative Entscheidungen den privaten Tragödien gegenüber. Regierungsgesteuerte Homophobie, bewusste Nachlässigkeiten in der AIDS-Bekämpfung und religiöse Heucheleien waren in den 1980er-Jahren die vorherrschende politische Richtung – Irvings Figuren laufen in ihrer Aufgeschlossenheit wie Zielscheiben durch den Roman, in ständiger Angst vor einem Angriff von Rechtsaußen.


Ein weiteres großes Thema ist die Kunst des Drehbuchschreibens, ein Metier, in dem sich Irving auskennt, konnte er doch für das Drehbuch zur Verfilmung seines Welterfolges GOTTES WERK UND TEUFELS BEITRAG im Jahr 2000 einen Oscar gewinnen. In seinem neuen Roman nutzt er dieses Medium, um Szenen aus Adam Brewsters Leben zu beschreiben, für die er herkömmliche Prosa als unpassend empfindet. Zwei komplette Drehbücher mit jeweils rund siebzig Seiten sind in den Roman eingegliedert, eine formale Entscheidung, die den Lesefluss zwar etwas unterbricht, in ihrer Radikalität aber dennoch als geglückt zu bezeichnen ist.

Zugegeben, man merkt dem 1942 geborenen John Irving das fortgeschrittene Alter an. Niemand verlangt von einem Schriftsteller, der einst Meisterwerke wie GARP UND WIE ER DIE WELT SAH oder OWEN MEANY schuf, dass er die Literatur stilistisch neu erfindet, dennoch ist – von den beiden Drehbüchern abgesehen – eine gewisse Altbackenheit nicht zu überlesen. Das Erzähltempo ist stark gedrosselt, es gibt viele Wiederholungen und der ganze Roman ist deutlich zu lang. Auch die über das ganze Buch verstreuten übernatürlichen Szenen – Adam kann Geister sehen – wirken planlos. Doch Irving ist jemand, dem man solche Makel nachsehen kann. Es ist einfach zu angenehm, sich in die typisch irvingsche Geschichte fallen zu lassen, sich mit den quirligen Charakteren anzufreunden und sie durch die Jahrzehnte zu begleiten. Denn eines hat John Irving nie verlernt: Wie man Bücher schreibt, die zu Herzen gehen.


DER LETZTE SESSELLIFT erschien in der Übersetzung von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg im Diogenes Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick auf Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift LESART Ausgabe 2/2023.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

6 Gedanken zu “John Irving | DER LETZTE SESSELLIFT

  1. Schönen guten Morgen Aus Wien, leider führt der Link bei mir ins „Uupps diese Seite..“ Leere.
    Hoffentlich kommt da noch was.

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  2. Das ist eine liebevolle Besprechung. John Irving ist tatsächlich ein großartiger Schriftsteller und mich umwehte beim Lesen nicht nur gepflegte Langeweile, ab und an, sondern auch Melancholie.
    Danke dir.

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