Donald Antrim | DER WAHRHEITSFINDER

USA 2000 | 224 Seiten
OT: »The Verificationist«
Rowohlt Taschenbuch Verlag
ISBN: 978-3-499-27079-6

Die Pfannkuchen-Essen waren meine Idee. (Seite 19)

INHALT: Zweimal im Jahr trifft sich eine Gruppe Psychoanalytiker im Pancake House & Grill, um sich über ihre Arbeit, ihre Patienten und die neuesten Errungenschaften im therapeutischen Sektor auszutauschen. Tom, der diesjährige Gastgeber und Ich-Erzähler, möchte den Abend gerade eröffnen, als ihn (nicht zum ersten Mal, wie der Leser erfährt) ein unbändig infantiler Zwang dazu bewegt, seine Gäste und Kollegen mit Wasser vollzuspucken und mit Essen zu bewerfen. Er hat die Rosinen-Zimt-Toasts schon in den Händen, als er von seinem riesigen Kollegen Bernhardt von hinten in die Mangel genommen wird. Da passiert das Unfassbare: Bernhardt drückt so kräftig zu, dass Tom regelrecht aus seinem Körper gequetscht wird und sein Geist in eine Art Metaebene übergeht, wo er den Abend an der Decke schwebend verbringt und sich, beobachtet und analysiert von seinen unerbittlichen Kollegen, seinen kühnsten Träumen und schlimmsten Ängsten stellen muss.

FORM: Auch in seinem dritten Roman (seinem letzten bislang) stellt Donald Antrim (*1958) sein ganzes schriftstellerisches Können, seine überbordende Fabulierlust und seinen Hang zu surrealen Szenerien unter Beweis. Und so bahnt sich der Leser seinen Weg durch eine butterfette Schicht aus Prosa, die durchweg den Spagat hält zwischen makabrer Komik und zielsicherer Beschreibung psychischer Landschaften. (Beispielhaft soll hier die Szene genannt werden, in der sich Jane, Toms Frau, bei Tom erkundigt, ob es etwas im Bett gibt, was er sich von ihr wünscht, was sie sonst nicht macht. Das Gespräch findet auf der Toilette statt, während Tom seinen Darm entleert und ein Würstchen nach dem anderen in die Schüssel platscht. Der ganze Spaß beginnt auf Seite 73; einfach mal reinlesen…)

Was genau ist das für ein Genre, das Antrim da bedient? Bei Doris Lessing sprach man in Bezug auf ihren Roman ANWEISUNG FÜR EINEN ABSTIEG ZUR HÖLLE (1971) von Inner Space Fiction, quasi als Gegenstück zur Science Fiction. Die eigene Psyche als Setting für Abenteuer, eine Spielwiese die genauso groß sein kann wie die Weiten des Alls? Das kommt der Sache schon ziemlich nahe, denn auch in den anderen Romanen Antrims steht die Psyche (oder zumindest die Wahrnehmung des eigenen Ichs und dessen soziale (Fehl-)Stellung) im Vordergrund und ist immer der Motor der Handlungen.

Hinzu kommt diese akademische Erzählerstimme (auch in allen Romanen ähnlich), die den Text wie in einer Uni-Vorlesung konzentriert runterlabert, gepaart mit völlig absurden Elementen, wie ebenjener Körperflucht im vorliegenden Roman. Der britische Kritiker James Woods prägte im Jahre 2000 den Begriff Hysterischer Realismus (als Teil der Postmoderne) für Prosa dieser Art, wie sie etwa von Zadie Smith oder David Foster Wallace geschrieben wird bzw. wurde. Und auch hier passt die Beschreibung auf Antrims Texte.

FAZIT: Irgendwo zwischen Inner Space Fiction und Hysterischem Realismus kann man also die Romane Antrims (insbesondere DER WAHRHEITSFINDER) ansiedeln. Wem dieser sirupdicke Cocktail einmal geschmeckt hat, wird süchtig danach – so auch ich. Leider ist das Gesamtwerk Antrims so schmal, dass die Sucht kaum ausreichend bedient werden kann. Aber nächstes Jahr erscheint die Neuausgabe seines Memoirenbandes MUTTER, auf den ich mich schon freue. Ich vergebe 5 glänzend polierte Sterne für diesen großartigen Roman.

5 Gedanken zu “Donald Antrim | DER WAHRHEITSFINDER

  1. Klingt wieder herrlich abgedreht. Sehr schön besprochen!!! Werde ich bestimmt im nächsten Jahr lesen; wollte mir diese außergewöhnlichen Leseerfahrung „aufheben“, da – wie erwähnt- nur wenig davon vorhanden. Danke an dieser Stelle für viele interessante Besprechungen!

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