D 2017 | 317 Seiten
DuMont Buchverlag
ISBN: 978-3-8321-9834-3
Busensuche negativ. Über der H&M-Bikini-Frau an der Bushaltestelle klebt Autowerbung – ein Kombi + Familie, vierköpfig. Die Bedienung vom Backshop mit dem tiefen Ausschnitt ist plötzlich ein Mann mit Vollbart (der Bäcker, schätzungsweise). (Seite 11)
INHALT: Als eine Grille im Klassenzimmer unermüdlich aber unentdeckt ihr Liedchen zirpt, lässt die Lehrerin Frau Höppner ihre Elftklässler kurzerhand einen Aufsatz über La Fontaines Fabel DIE GRILLE UND DIE AMEISE schreiben. So verschieden die Jugendlichen, so verschieden sind auch die Arbeiten. Lenny, der Nerd, von allen einstimmig als Vollidiot abgestempelt, schreibt ganz anders als Beatrice, die Selbstmordkandidatin. Der notorische Schulschwänzer Henk, der in Clubs rumhängt und Drogen vertickt, hat ganz andere Ziele als die hochbegabte Li, die mit ihrer Opernstimme eine Gesangskarriere anstrebt. Neun Schüler sind es, die zwischen Realität und Virtualität nach ihrem Platz in der Welt suchen.
FORM: John von Düffel (*1966) hat für KLASSENBUCH tief in die Trickkiste gegriffen und ein kleines Mindfuck-Wunderwerk gezaubert, das vor Twists und Haken nur so strotzt. Dabei fängt alles ganz locker an.
Im ersten der beiden Teile lesen wir die Hausarbeiten über die Grille. Alle Schüler werden auf diese Weise vorgestellt, erhalten ihre Tiefe, ihre Ziele und Absichten. So weit, so gut. Im zweiten Teil kommt die ganze Belegschaft nochmal der Reihe nach zu Wort. Diesmal aber nicht hinter dem Schutzmantel der Klassenarbeit, die Frau Höppner ja zu lesen bekommt, sondern echt, mit allen Problemen und Ängsten – die wahre Stimme aus der Tiefe des Herzens. Und hier wird dem Leser erst klar, wie es wirklich um die Klasse bestellt ist, wer das Sagen hat, wer sich verstellt und über wen es nur Gerüchte gibt. Ein Aha-Effekt jagt den nächsten und mit jeder Wortmeldung muss der Leser das bisher Gelesene neu sortieren.
Einen wichtigen Part in diesem sozialen Wirrwarr übernehmen die Digitalen Medien, denen sich die Schüler wie selbstverständlich unterwerfen. Hier blickt von Düffel ein wenig in die Zukunft, die aber auch nicht mehr weit entfernt zu sein scheint. Dass die moderne Technik schier unbegrenzte Möglichkeiten bietet und dass das Internet eine der bahnbrechensten Erfindungen der letzten Jahrzehnte darstellt, ist unbestreitbar. Dass aber das Überangebot und das ständige Online-Dasein das Leben im Endeffekt eher verkompliziert als erleichtert, wird auch immer deutlicher. Und auch in KLASSENBUCH (was für ein schöner analoger Titel) ist die digitale Welt Fluch und Segen. Sicher, Social-Media-Kritik ist nichts Neues, aber selten wurde sie so kunstvoll dargebracht wie in diesem Roman.
FAZIT: Kaum zu fassen, aber KLASSENBUCH war mein erstes Buch von John von Düffel, einem Autor von dem ich schon viel gehört habe und der mich schon seit Jahren reizt. Jetzt endlich durfte ich mich von seiner Könnerschaft überzeugen und verspreche: Das wird nicht mein letzter Roman von ihm sein. KLASSENBUCH ist große Kunst – fünf Sterne!
Etwas kritischer sah es dagegen die Buchbloggerin.
Ich danke dem DuMont Buchverlag für das Rezensionsexemplar. Alle weiteren Informationen über den Roman findet Ihr hier.
Das Klassenbuch muss her. Ein Eintrag fehlt 😉 Danke mal wieder.
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Aber gerne doch! Viel Spaß damit!
Beste Grüße vom Bookster…
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[…] AROMA Tilman Rammstedt | MORGEN MEHR Peter Wawerzinek | RABENLIEBE Kerstin Preiwuß | NACH ONKALO John von Düffel | KLASSENBUCH (Geheimtipp!) Klaus Cäsar Zehrer | DAS GENIE José Saramago | EINE ZEIT OHNE TOD Joshua Cohen | […]
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[…] Fiktion nur stückweise preisgibt und einen Heidenspaß daran zu haben scheint. Sein letzter Roman KLASSENBUCH war ein Paradebeispiel für trickreiche Prosa voller Twists und Aha-Effekte. Ganz so wild treibt er […]
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[…] habe ich zuletzt in John von Düffels großartigem – und leider völlig untergegangenem – Roman KLASSENBUCH gelesen. Karosh Taha steht ihm hier in Sachen Finesse in nichts […]
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