D 2021 | 530 Seiten
Eichborn
ISBN: 978-3-8479-0066-5
»Gentili signori, siamo in arrivo a Bellinzona. Per Lugano binario due.«
(Seite 11)
Wie lange hatte sie geschlafen?
Als Hannah Arendt im Sommer 1975 in ihr Feriendomizil in den Schweizer Alpen reist, ahnt sie noch nicht, dass es ihr letzter Aufenthalt dort sein wird. Seit einigen Jahren kehrt sie immer wieder nach Tegna zurück, einem kleinen Ort bei Locarno, mittlerweile auch ohne ihren Heinrich. Dort findet sie Ruhe und Ablenkung, kann Kraft tanken für die Hektik von New York, wo sie seit bald 35 Jahren lebt. Sie kann auf bewegte Zeiten zurückschauen – zwei Weltkriege, Flucht und Exil, weltweiter Ruhm und Freundschaften mit den größten Denkern ihrer Zeit. Sie hat viel erlebt, viel publiziert und sich über Unmengen an Themen geäußert. Aber das Buch, an das man sich noch in Jahrzehnten erinnern wird, wenn man ihren Namen hört, ist ihr Bericht über den Prozess gegen den NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann in Jerusalem. Seit der Veröffentlichung 1963 muss sie ihr Werk verteidigen, denn kaum ein anderes politisches Buch erhitzte so sehr die Gemüter wie die BANALITÄT DES BÖSEN, wie es im Untertitel heißt.
Um das Leben einer Frau wie Hannah Arendt (1906-1975) einigermaßen gerecht auf Papier zu bringen, wären wohl Dutzende Bände nötig. Die Schweizer Autorin und Kritikerin Hildegard Elisabeth Keller (*1960) versucht es in ihrem Romandebüt mit gut 500 Seiten und legt den Fokus eher auf die private Seite der Philosophin. Ausgangspunkt und steter Ort der Wiederkehr ist Tegna, wo jedes zweite Kapitel spielt. Dazwischen führt uns Keller durch Arendts reiches Leben, angefangen bei der Flucht aus Europa nach Amerika, über die dortigen Professuren am New Yorker Bard College und im kalifornischen Berkeley, natürlich über die Reportagen in Jerusalem, bis hin zu ihren späten Reisen. Um all die überlieferten Stationen in Arendts Leben zu einem möglichst persönlichen Roman zu verbinden, muss Keller viel recherchiert haben. Dafür standen ihr nicht nur die publizierten Schriften zur Verfügung, sondern auch Arendts Tagebücher. Aus all diesen Texten bastelte die Autorin in fiktionalen Dialogen einen guten Querschnitt durch Arendts Leben.
Die Erzählstimme ist dabei extrem dicht an der Hauptfigur; nur der Respekt vor der historischen Persönlichkeit hielt Keller wohl davon ab, die Ich-Form zu wählen. Wir erfahren jeden kleinen Gedanken, ob er sich nun um Martin Heidegger dreht, den letzten Arztbesuch oder das bevorstehende Frühstück. Der Text steckt voller Informationen, jedes Kapitel quillt fast über. Das ist alles äußerst interessant, wirkt beim Lesen aber etwas überladen. Zu Hochform läuft Keller auf, wenn sie die Vorlesungen an den Universitäten in den USA nachstellt, in jenen Zeiten, als man höllisch aufpassen musste, was man sagt, um nicht als Kommunist gebrandmarkt zu werden. Großartig auch die Kapitel in Jerusalem, in denen wir Zeuge werden, wie Arendt den Eichmann-Prozess wahrnimmt und zu ihren Folgerungen kommt.
Andererseits kommen einige Kapitel nicht so recht in die Gänge. Viele Dialoge sind zu lang geraten, manchmal zehn, zwölf Seiten, ohne dass mal jemand Luft holt; das strengt unnötig an. Und auch nicht jede Szene ist relevant genug, um erzählt zu werden, manche wirken geradezu deplatziert; ein bisschen Straffung hier und da hätte dem Roman sicher gutgetan. Gleichwohl, WAS WIR SCHEINEN ist ein gutes Buch und besonders für Leserinnen und Leser zu empfehlen, die sich einen groben Überblick über Hannah Arendts Leben verschaffen wollen. Keller setzt viel Wissen voraus, aber die tiefere Recherche über Arendt kommt während der Lektüre ganz automatisch.
WAS WIR SCHEINEN ist im Eichborn Verlag erschienen, dem ich herzlich für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe und ein Interview findet.
Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
Ich habe nach der Hälfte erstmal abgebrochen. Bin etwas enttäuscht von der Sprache und fand manche Stellen peinlich bis unglaubwürdig bis langweilig. Etwa die mit dem jungen Kellner auf der Terasse in Tegna. Da hätte ich Frau Keller mehr zugetraut.
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Ja, einige Szenen sind wirklich überflüssig. Frau Kellers Intention, mehr auf die private Seite Arendts zu schauen, ist ja löblich, aber da kam auch viel Irrelevantes zu Papier. Die Sprache hat mich total an Keller selbst erinnert, sie schreibt genauso, wie sie auch spricht und tut, so … divenhaft und theatralisch. Hab sie bei der Online-Präsentation zu dem Buch erlebt (warst Du auch dabei?), und später bei der Lektüre genau diese Art herausgelesen. Ob dieser Ton auch zu Hannah Arendt passt? Keine Ahnung…
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Ja, ich war bei der Präsentation dabei und fand sie da super sympathisch und nicht so streng, wie ich sie in der Bachmannjury erlebte. Deswegen war ich dann enttäuscht, dass es mir nicht so gut gefiel. Mal sehen, vielleicht lese irgendwann noch mal weiter …
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[…] Weitere Besprechungen gibt es unter anderem bei Birgit Böllinger, Bücheratlas, Schiefgelesen, Bingereader und Bookster HRO. […]
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