Martin Hiller | FRAU ELSTER UND DER EINGESTICKTE WAL

D 2023 | 736 Seiten | 25 Euro
Kran und Weuke Verlag
ISBN: 978-3-00-077228-3

Es gibt keine Worte.
Ich schreibe sie alle auf.

(Seite 23)

(Triggerwarnung: Kindstod)
Wie lebt man weiter, wenn einem das Schlimmstmögliche widerfahren ist? Welche Wege gibt es, mit einer Trauer umzugehen, die alles zuvor Erlebte in den Schatten stellt? Wie beschreibt man das Unbeschreibbare? Martin Hiller hat im Juli 2022 seinen Sohn durch eine Herzkrankheit verloren. Der kleine Karl wurde nicht einmal zwei Jahre alt. Hillers Weg nach dem Verlust: Ein Trauertagebuch. In FRAU ELSTER UND DER EINGESTICKTE WAL führt uns der Autor minutiös durch die ersten hundert Tage ohne seinen Sohn.

Das Buch beginnt mit dem 17. Juli 2022, dem Tag danach. Eine Taubheit umfängt den Autor. Der Impuls zu schreiben ist bereits da, doch wie beginnt man einen solchen Text. Hiller will offen sein, will seine Gedanken so ehrlich wie möglich in Worte fassen und zu Papier bringen. Das ist, was er kann, das wird sein Weg durch die nächste Zeit sein. Zunächst stolpernd und mit jedem Satz hadernd, gewinnt er Tag für Tag, Woche für Woche mehr Sicherheit. Es scheint, als ob er erneut das Laufen lernt – im Text wie im Leben. Hiller schreibt über alles, was ihm durch den Kopf geht, was ihm widerfährt. Über die endlosen Tage tiefsten Leids und die seltenen Augenblicke zarter Hoffnung. Über seine Mitmenschen – seine Frau Carina und besonders seinen Sohn Paul, Karls Zwillingsbruder –, über Freunde und Bekannte, sämtlichst auf jede Weise erschüttert. Über all die Kleinigkeiten, die an Karl erinnern, immer wieder die noch frischen Wunden aufreißen, aber mit der Zeit auch milde stimmen. Über das Leben, das mit seinen Zwängen und Pflichten einfach so weitergeht. Und natürlich beschreibt er aus jeder erdenklichen Perspektive diese neue klaffende Leerstelle, mit der die junge Familie von nun an leben muss.

Hiller sucht in seinem Text keine Antworten – es gibt keine, das ist ihm bewusst. Er sieht im Schreiben eher ein Ventil, eine Möglichkeit zur Verarbeitung des Erlebten, und vielleicht auch ein bisschen Entlastung. Andere flüchten sich in Arbeit, betreiben intensiv Sport oder lassen sich einfach fallen – Hiller findet das Schreiben, um nicht vor Kummer zu vergehen. Versehen mit Vor- und Nachwort, bereichert mit vielen privaten Fotos und – interessanterweise – einem Schlagwortregister, ist viel mehr als nur ein bloßes Buch entstanden. Es ist ein Lebensbuch über die Trauer, ein Trauerbuch über das Leben.


Bücher über den Verlust eigener Kinder kannte ich bisher nur als fiktive Romane, Sachbücher mal ausgenommen. Ein Beispiel dafür wäre Sarah Kuttners KURT, das vor ein paar Jahren sehr erfolgreich war. Die Eigenheit solcher Romane ist, dass – auch wenn sie noch so eindringlich sein mögen – wir doch immer im Hinterkopf haben, dass es sich dabei um Fiktion handelt. Bei Hillers Buch ist das anders. Hier wird von Beginn an klargestellt: Alles ist echt, alles hat sich genauso zugetragen. Dieses Wissen ändert unsere Perspektive zur Lektüre grundlegend. Während man beim Lesen von KURT wie auf ein prasselndes, um sich greifendes Feuer schaut, sitzt man bei FRAU ELSTER UND DER EINGESTICKTE WAL mittendrin in diesem Feuer.

Das macht eine objektive Bewertung auch so schwierig, ja fast unmöglich. Wäre dieses Buch reine Fiktion, würde ich sicher einige stilistische und dramaturgische Entscheidungen bemängeln, die vielen Wiederholungen beispielsweise, oder dass aufgenommene Handlungsstränge nicht zu Ende erzählt werden. Hillers Buch ist aber keine Fiktion, es ist das Abbild der Realität. Fiktion muss – oder sollte – am Ende stets irgendeinen logischen Sinn ergeben, das Leben dagegen hält sich nur selten an eine Dramaturgie. FRAU ELSTER UND DER EINGESTICKTE WAL ist genau das, was den Autor während der ersten Wochen und Monate nach dem Verlust gedanklich umtrieb – mehr Authentizität geht nicht.

Dieser Tagebuchroman ist so ziemlich das intensivste Buch, dass ich in den letzten Jahren gelesen habe. Ich möchte Martin Hiller für seinen Text nicht einfach so loben, wie ich das als Literaturblogger halt so mache, das käme mir in diesem Fall nicht richtig vor. Ich möchte ihm stattdessen dafür danken, dass er mich auf so ehrliche, geradezu intime Weise an seinem Leben hat teilnehmen lassen und wünsche ihm für die Zukunft alles erdenklich Gute.


FRAU ELSTER UND DER EINGESTICKTE WAL erschien im neu gegründeten Kran & Weuke Verlag. Ich danke dem Autor herzlichst für das Rezensionsexemplar. Mit einem Klick auf das Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor findet.

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