Richard Powers | DIE WURZELN DES LEBENS

USA 2018 | 618 Seiten
OT: »The Overstory«
Aus dem Amerikanischen von
Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié

S. Fischer
ISBN: 978-3-10-397372-3

Zuerst war da nichts. Dann war da alles. (Seite 13)

Als ich vor etwa zehn Jahren Richad Powers‘ ECHO DER ERINNERUNG las, war ich hoch begeistert und enorm beeindruckt davon, wie der Autor es vermag, ein so heikles Thema wie das Capgras-Syndrom belletristisch dermaßen behutsam und eindringlich zu behandeln. Ich nahm mir vor, jeden Folgeroman mit Vorfreude zu erwarten und nach Erscheinen sofort zu verschlingen. Leider blieb es – wie so oft – bei dem bloßen Vorhaben. Irgendwie rutschte mir Powers aus dem Blickfeld, und auch wenn ich jede Veröffentlichung zur Kenntnis nahm, griff ich doch nie wieder zu. Nun aber wurde ich bei der Frankfurter Buchmesse vom Fischer-Verlag direkt mit der Nase auf seinen neuesten Roman gestoßen und konnte nicht anders, als mir ein Exemplar mitzunehmen, und sei es nur, um meinem alten Vorhaben wieder etwas Starthilfe zu geben. Ein Buch über Bäume und Menschen und Menschen in Bäumen … na mal sehen…


Was bei DIE WURZELN DES LEBENS sofort auffällt, ist die clever gewählte Struktur. Erzählt werden mehrere Jahrzehnte im Leben von neun Protagonisten, aufgeteilt in Wurzel, Stamm, Krone und Samen. Im Wurzelteil erfahren wir die Geschichten der Figuren, ihre Herkunft, lernen ihre Familien kennen, die Umstände ihrer Leben. Jede dieser Figuren hat irgendwo in ihrem Dasein mehr oder weniger Verbindung mit einem Baum. Sei es die Kastanie hinter Nicholas‘ Haus – die letzte auf dem amerikanischen Kontinent – oder der Maulbeerbaum in Form eines Jaderings am Finger von Mimi Ma, Tochter eines chinesischen Einwanderers, der den kostbaren Ring als einziges Erbstück von Wert hinterließ. Jeder Charakter bekommt sein eigenes Kapitel und auch seinen eigenen Baum – passend zu seinem Naturell und seiner Geschichte – zugewiesen.

Der zweite Teil Stamm spielt hauptsächlich zu Beginn der 1990er Jahre in den Wäldern Kaliforniens und Oregons. Hier beginnt Powers damit, die einzelnen Lebenswege seiner Figuren miteinander zu verflechten. Das passiert zum größten Teil bei Protestaktionen gegen die kommerzielle Abholzung uralter Wälder durch profitorientierte Großkonzerne. Aktionen, die in monatelanger Belagerung der schützenswerten Bäume, Zerstörung der Forstmaschinen, brutales Vorgehen gegen die Umweltschützer und schließlich im versehentlichen Feuertod einer Aktivistin gipfeln. Nach diesem tragischen Verlust trennen sich die Lebenswege wieder in alle Richtungen, wie die Äste eines Baumes, beschrieben im Teil Krone. Und was am Ende, Jahrzehnte später, übrig bleibt – es kann ja nicht alles umsonst gewesen sein; es muss eine Art Vermächtnis geben –, erfahren wir im letzten Teil Samen.

(Wurzel, Stamm, Krone, Samen – Menschen kommen aus unterschiedlichsten Richtungen, gehen einige Zeit den Weg gemeinsam, trennen sich dann wieder überall hin und hinterlassen schließlich ein Erbe. Großartig komponiert. SO macht man das, Frau Colombani!)


Seit Peter Wohllebens Sachbuch-Erfolg DAS GEHEIME LEBEN DER BÄUME und spätestens seit den Ausschreitungen um den Hambacher Forst im Sommer 2018 ist das Thema Forstschutz allgegenwärtig. (Und wie immer bei solchen Debatten gibt es schon die ersten, denen diese Leier auf den Geist geht, als sei es eine Modeerscheinung. Dieses Schicksal wird sicher auch bald die armen Bienen ereilen.) Natürlich ist das ein wichtiges Thema, das sollte auch jedem noch so zynischen Zeitgenossen klar sein. Nun gehöre ich aber auch nicht zu den Hardcore-Aktivisten, bin weder Ulmenumarmer noch Fichtenflüsterer. Ich gehe gern durch Wälder und finde Bäume in ästhetischem Sinne schön, sitze aber auch gerade auf einem Stuhl aus Holz an einem Holztisch und habe die komplette Bude mit Massivholzmöbeln vollgestellt. Insofern bin ich wohl der Falsche für ein konstruktives Streitgepräch.

Die Frage ist, was Richard Powers diesem Thema außer einer netten Feld-Wald-und-Wiesen-Geschichte hinzuzufügen hat. Nicht viel, fürchte ich. Die meisten der beschriebenen Schicksale hat man schon mal irgendwann von irgendwem gehört, und auch die Ausweitung der Debatte in virtuelle und esoterische Welten tun dem Roman nicht gut. Schriftstellerisch gelungen ist das Buch ohne Frage, auch wenn der Roman für meinen Geschmack etwas zu voll gepackt ist, sowohl mit Informationen, als auch mit reiner Narration. Powers erzählt und beschreibt und beschreibt und erzählt – das war mir hier und da viel zu viel. Mehr wörtliche Rede hätte den Text an vielen Stellen aufgelockert, so aber war ich schon nach der Hälfte satt und bekam bis zum Schluss auch keinen Appetit mehr.

Kann man lesen, muss man aber nicht. Ich gehe jetzt einen Baum pflanzen.

Update April 2019: Richard Powers hat für den Roman gerade den Pulitzer Prize for Fiction erhalten. Herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle!


978-3-10-397372-3DIE WURZELN DES LEBENS ist beim Fischer Verlag erschienen, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Alle Informationen über Buch und Autor findet Ihr hier. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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