Yoko Ogawa | DER DUFT VON EIS

JPN 1998 | 264 Seiten
OT: »凍りついた香り«
Aus dem Japanischen von Sabine Mangold
Liebeskind Verlag
ISBN: 978-3-95438-150-0

Mein Anschlussflug von Wien-Schwechat nach Prag hatte fünf Stunden Verspätung.

(Seite 5)

Zu den derzeit bedeutendsten Autorinnen Japans gehört zweifellos Yoko Ogawa. Die Karriere der 1962 in Okayama geborenen Schriftstellerin stand von Anfang an unter einem guten Stern. Gleich ihre erste Veröffentlichung – der Erzählband DER ZERBROCHENE SCHMETTERLING – erhielt 1988 den renommierten Kaien Preis. In ihrem Heimatland erhielt sie in den Folgejahren viel Anerkennung, ohne jedoch diese Bekanntheit über die Landesgrenzen hin ausweiten zu können. Dies änderte sich spätestens im Jahr 2020, als sie mit der englischen Übersetzung ihres Romans INSEL DER VERLORENEN ERINNERUNG – den sie fast ein Vierteljahrhundert zuvor geschrieben hatte – für den International Booker Prize nominiert wurde.

Für das deutschsprachige Publikum zeigt sich seit über zwanzig Jahren der Münchner Verlag Liebeskind in der Verantwortung, Ogawas Texte zu übertragen, und das mit stetig wachsendem Erfolg. Um die leise Prosa, für die die japanische Literatur jenseits der Manga-Welten so berühmt ist, verlustfrei ins Deutsche zu holen, wird seit längerem Sabine Mangold verpflichtet, die auch DER DUFT VON EIS übersetzt hat, den aktuellen Ogawa-Roman im Liebeskind-Programm.


Die Geschichte beginnt mit dem Suizid eines Parfümeurs. Hiroyuki hat in seinem Labor absichtlich eine große Menge reines Ethanol getrunken und ist zwischen all seinen Duftkreationen gestorben. Als diese Information Ryoko erreicht – Hiroyukis Geliebte –, kann sie es kaum glauben. Hiroyuki schien stets Herr der Lage zu sein, nichts wies auf seelische Probleme, geschweige denn suizidale Gedanken hin. Vor kurzem erst schenkte er ihr noch einen eigens komponierten Duft namens Quell der Erinnerung und nun soll dieser Mann tot sein? Ryoko und Hiroyuki waren aber erst seit kurzem ein Paar und so muss sich die junge Frau eingestehen, dass sie über die Vergangenheit ihres Partners doch eher wenig weiß.

Ryoko beginnt eine Reise an die wichtigen Orte aus Hiroyukis Leben. Sie wohnt im Elternhaus bei seiner Mutter und freundet sich dort auch mit seinem jüngeren Bruder Reiko an. Von ihnen erfährt sie viel über die Kindheit und Jugend ihres Geliebten und es entsteht ein völlig unerwartetes Bild von ihm. Ein Mathematik-Genie soll er gewesen sein, der über Jahre hinweg dutzende Meisterschaften gewonnen habe – und tatsächlich gibtes im Haus ein schreinartiges Zimmer, in dem alle Pokale, Medaillen und Urkunden wie heilige Reliquien ausgestellt sind. Und auch im Sport soll er begabt gewesen sein, ein Eiskunstläufer auf allerhöchstem Niveau. Es soll Leute gegeben haben, die die hiesige Eishalle nur aufsuchten, um Hiroyuki beim Training zuzuschauen.

Ryoko, die diese Erzählungen kaum mit dem Bild ihres Freundes vereinen kann, gräbt tiefer und stößt bei ihrer Spurensuche auf ein Kapitel in Hiroyukis Vergangenheit, das sich auf mystische Weise als Dreh- und Angelpunkt in seinem Leben erweist. Ihre Reise führt sie zunächst nach Prag und schließlich in eine eisige Grotte, in der die Luft von einem Aroma erfüllt ist, das sie nur zu gut kennt.


Ohne dass es konstruiert wirkt, erzählt Yoko Ogawa in gewohnt ruhiger Prosa auf verschiedenen zeitlichen und geografischen Ebenen von der Erkundung eines Lebens und deckt dabei Fragen auf, die in vielen von uns auf Antworten warten. Was bin ich bereit zuzugeben und was verschweige ich besser? Welche Szenen meiner Jugend gehören gestrichen und welche – notfalls – erfunden? Auch in DER DUFT VON EIS bleibt die Autorin vielen ihrer Themen treu: Das versteckte Leben im öffentlichen und die von der Gesellschaft aufgeschriebenen Rollenbilder. Der enorme Leistungsdruck, der in den asiatischen Industrieländern – und besonders in Japan – vorherrscht, und bei vielen Menschen große psychische Belastungen verursacht, ist seit langem ein vielbeschriebenes Thema in der Literatur des Kontinents. Und nicht zuletzt geht es Ogawa auch um das Erinnern an sich. Dass wir Menschen – im Gegensatz zu vielen Tieren – unseren Geruchssinn als Erinnerungsspeicher eher unbewusst nutzen, mag aus evolutionärer Sicht ein Nachteil sein. Ogawa hat sich dieses Mankos angenommen und daraus eine poetische und feinsinnige Geschichte geflochten.


DER DUFT VON EIS erschien in der Übersetzung von Sabine Mangold im Liebeskind Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.

Diese Rezension erscheint im März auch in der Zeitschrift LESART Ausgabe 1/2023.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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