Mirko Bonné | ALLE UNGEZÄHLTEN STERNE

D 2023 | 336 Seiten
Schöffling Verlag
ISBN: 978-3-89561-348-7

So endet alles.

(Seite 7)

Eine der unumstößlichen Tatsachen unseres Lebens ist es, dass wir den Tag unseres Todes nicht wissen, dass wir nie damit rechnen können, wieviel Zeit genau uns noch bleibt. Ob das eine Ungerechtigkeit oder ein Segen ist, darüber kann man bis in philosophische Sphären streiten. Wenn wir es wüssten, was würden wir dann tun? Würden wir unser Leben ändern, bestimmte Dinge besser oder anders machen? Würden wir noch etwas Großes erreichen wollen oder die uns beschiedene Zeit einfach in Ruhe genießen? Benno Romik – der Ich-Erzähler in Mirko Bonnés neuem Roman ALLE UNGEZÄHLTEN STERNE – nutzt die Technik der Künstlichen Intelligenz, um sich seine Restlebenszeit errechnen zu lassen. Das ernüchternde Ergebnis: Siebzehn Tage.

Mirko Bonné ist ein Meister darin, Figuren mit ausweglosen Situationen zu konfrontieren, und auch diesmal lässt er seinen Helden in eine Sinnkrise stürzen. Romik, Brückenkommisar der Hansestadt Hamburg – pensioniert zwar, doch nach wie vor passioniert –, leidet an Magenkrebs, den er dank moderner Medizin weitestgehend schmerzfrei unter Kontrolle hält. Er gibt sich wacker und diszipliniert, ist trotz des Ruhestands eine gefragte Koryphäe in Sachen Brückenbau und im Kollegium eine Respektsperson. Doch die errechneten siebzehn Tage Restlebenszeit geben ihm zu denken. Er hat in seinem Leben beruflich viel erreicht, familiär dagegen viel verloren. Gibt es da noch etwas zu retten? Kann er gewisse Umstände wieder ins Lot bringen? Wird seine Tochter je wieder mit ihm reden?

Viel Zeit zum Sinnieren bleibt Romik aber nicht, denn eine Reihe von Zufällen spült ihm eine junge Frau ins Haus, die sein Leben gehörig auf den Kopf stellt. Hollie Magenta – so der Kampfname der linksextremen Terroristin – wird bei einer Nacht- und Nebelaktion von einer Autobombe in der Hamburger Innenstadt schwer verletzt. Romik bringt sie zu sich nach Hause, pflegt und versorgt sie und freundet sich trotz aller Differenzen mit ihr an. Für Hollie ist Romik das typische Feindbild – alter, weißer, privilegierter Mann –, dennoch nimmt sie seine Hilfe an und weiht ihn sogar in die Vorhaben ihrer Gruppe ein, denn vielleicht kann ein solches Alpha-Männchen ihr noch von Nutzen sein. Romik dagegen sieht in Hollie eine Fügung des Schicksals, eine letzte Chance, sein Leben nochmal in neue Bahnen zu lenken.


Naturgemäß gibt es bei derart unterschiedlichen Menschen, die der Zufall zusammenbringt, jede Menge Reibung und Probleme, die Literaturgeschichte ist voll mit solchen Paaren wider Willen. Allein der Altersunterschied von rund fünfzig Jahren steht wie eine Mauer zwischen Romik und Hollie. Doch Mirko Bonné macht nicht den Fehler, die Jugend zu belächeln und das Alter zu heroisieren. Romik macht keinen Hehl daraus, dass er Hollie kaum versteht, dass er größtenteils nicht weiß, wovon sie spricht, und ihre Taten zwar toleriert, nicht aber mit seinen Überzeugungen vereinbaren kann. Der Roman verkommt auch nicht zu einer dieser antiquierten Herren-Phantasien, in der sich die unerfahrene Schöne in den weisen Greis verliebt – auch wenn Romik zu Beginn mit den Silben in Hollies Namen spielt wie einst Humbert Humbert mit denen von Lolita. Hollie ist keineswegs Objekt irgendeiner Begierde. Sie ist tough, rough und woke – Sexualität spielt in diesem Roman dankenswerterweise keine Rolle.

Das Spiel mit Deutungsebenen und intertextuellen Bezügen dagegen schon. ALLE UNGEZÄHLTEN STERNE wimmelt nur so vor Anspielungen und Verweisen in die Welt der Literatur. Das beginnt schon bei Benno Romiks anagrammatischen Namen und führt zurück bis ins Mittelalter, als sich Dante von Vergil durch das Fegefeuer geleiten ließ. (In Romiks Fall ist es ein Hund, der ihn des Nachts durch ein besetztes Haus führt, was die Lesart eröffnet, dass Romik gar nicht mehr auf den Tod warten muss.)

ALLE UNGEZÄHLTEN STERNE ist trotz der lockeren Erzählart eine ausgeklügelte Geschichte voller gut platzierter Untiefen, sowohl spannende Unterhaltung als auch literarische Fundgrube und ganz klar einer der besten Romane des Autors.


ALLE UNGEZÄHLTEN STERNE erschien im Schöffling Verlag, dem ich herzlich für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.

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