USA 1955 | 1230 Seiten
OT: »The Recognitions«
Überarbeitete Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Marcus Ingendaay
Nachwort von Denis Scheck
Deutsche Verlagsanstalt 2013
ISBN: 978-3-421-04519-5
Sogar Camilla war zeitlebens einem Maskenball nicht abgeneigt gewesen, wobei sie sich jedoch stets auf unverfängliche Veranstaltungen beschränkt hatte, deren Reglement die Selbstentlarvung ausdrücklich zuließ, in jenem entscheidenden Moment nämlich, in dem die Maske Anspruch auf Wirklichkeit erhob.
(Seite 9)
2022 sollte bei mir das Jahr der dicken Bücher werden. Im Januar hatte ich mir also vorgenommen, fünf Romane mit mehr als tausend Seiten, die schon seit längerer Zeit in meinem Regal auf ihre Lektüre warten, von ihrem staubigen Schattendasein zu befreien. Wie das bei solchen Vorhaben aber leider so ist, spielt die Zeit – dieser olle Spielverderber – nicht so richtig mit. Jetzt ist der August vorbei und ich habe gerade mal den zweiten Schinken geschafft … dafür war es aber auch der fetteste von allen.
Als großer Freund der amerikanischen Postmoderne musste ich mir William Gaddis‘ Debütroman DIE FÄLSCHUNG DER WELT früher oder später mal geben – es wurde einfach Zeit. Dieser bereits 1955 erschienene Roman gilt als Initialzündung für jene Literaturform, die ihre Hochphase in den 70ern mit Thomas Pynchon und Kurt Vonnegut feierte und über die Jahrzehnte von Autorinnen und Autoren wie David Foster Wallace, Zadie Smith, Don DeLillo, Paul Auster und Jennifer Egan weiterentwickelt und perfektioniert wurde. DIE FÄLSCHUNG DER WELT wurde erst 1998 ins Deutsche übertragen und 2013 in überarbeiteter Form bei der Deutschen Verlagsanstalt erneut veröffentlicht. Genau diese Ausgabe stand nun also schon neun Jahre lang in meinem Regal und schaute mich vorwurfsvoll an. Immer wenn mein Blick den Rücken des Buches streifte, bekam ich kurz ein schlechtes Gewissen, weil ich mich nie an die Lektüre wagte (offen gestanden, hatte ich es schon zwei Mal versucht, kam aber nie über das erste Kapitel hinaus). Nun ist es aber vollbracht, 1230 eng bedruckte Seiten liegen hinter mir und ich kann sagen: Es hat sich gelohnt!
Worum es geht? Tja … an dieser Stelle mache ich ja meistens einen kurzen Abriss über den Inhalt eines Buches, das fällt bei diesem Monstrum von Roman aber reichlich schwer. Wenn es überhaupt so etwas wie eine Hauptfigur gibt, dann wohl am ehesten Wyatt Gwyon, der zu Beginn des Romans noch in den Kinderschuhen steckt. Wyatt, der im ländlichen Neuengland aufwächst, entdeckt schon in jungen Jahren sein Talent zum Malen und Zeichnen, darf es unter der Aufsicht seiner ultrareligiösen Tante aber nicht ausüben, weil diese der Meinung ist, dass man sich mit jedem kreativem Output zu sehr in Gottes Konkurrenz stellt, dem einzigen Schöpfer. Da die Malerei für Wyatt aber weniger ein netter Zeitvertreib als vielmehr innigste Ausdrucksform aus den Tiefen seines Herzens ist, malt er heimlich weiter und bringt sein Können früh zur Perfektion. Das Pfarramt, das in seiner Familie von Generation zu Generation weitervererbt wird, lehnt er ab und studiert in Europa Kunst.
Zurück in Amerika zieht Wyatt nach New York City, wo er zunächst als technischer Zeichner für einen Brückenarchitekten arbeitet. Nebenbei malt er Bilder im Stile alter Meister. Dabei fälscht er aber keine Originale, sondern kreiert neue Gemälde, die dermaßen echt wirken, dass sie als verschollene Originale jener klassischen Maler durchgehen. Mit dieser Gabe weckt er das Interesse des zwielichtigen Kunsthändlers Recktall Brown, für den Wyatt von nun an immer mehr Gemälde anfertigen soll. Brown zieht Wyatt, der immer nur seinem guten Herzen folgt, immer tiefer in den kriminellen Sumpf der elitären Kunstwelt hinab, in dem er sich nach und nach komplett verliert.
DIE FÄLSCHUNG DER WELT besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil wird Wyatts Familiengeschichte geschildert, seine Jugendjahre bis hin zu seinen ersten Erfolgen in New York. Zeitlich umfängt dieser Teil etwa die dreißig Jahre vom Ende des Ersten Weltkrieges bis in die späten 1940er. Der zweite (mit etwa 600 Seiten aber deutlich längste) Teil spielt ausschließlich in der Weihnachtszeit 1949. Im dritten Teil werden dann die letzten losen Fäden der Geschichte zum Ende gebracht.
Besonders im Mittelteil wird die schwindelerregende Komplexität des Romans deutlich. Dutzende Figuren bevölkern die Szenerie, suchen ihr Glück und quasseln dabei hoffnungslos durcheinander und aneinander vorbei. William Gaddis wollte mit seinem Debüt einen möglichst breit gefächerten Querschnitt durch die damalige Großstadt-Gesellschaft ziehen, deshalb ist aus allen Schichten jemand dabei: Intellektuelle und Trittbrettfahrer, junge Paare mit Kinderwunsch und gescheiterte Künstler, Kriminelle und Geistliche, Säufer, Huren und Heilige. Was sie alle jedoch gemeinsam haben, ist die Gier nach Geld, nach schnellem Erfolg, ohne sich groß verbiegen zu müssen. Als Quintessenz des Romans und gelungenes Abbild für die damalige gesellschaftliche Lage können die beiden Kapitel gelten, die parallel an Heiligabend 1949 spielen (Teil II, Kapitel 7 und 8): Zum einen die chaotische Weihnachtsfeier von Wyatts Ex-Frau Esther, auf der sich die halbe Nachbarschaft eingefunden hat und bei viel zu viel Alkohol jede Menge Kleinkriege ausgefochten werden; zum anderen die nicht minder gesittete Business-Party von Recktall Brown, auf der er das neueste „verschollene Original“ an den Mann bringen will – auch hier versinkt das geladene Publikum in heillosem Chaos.
Allein in diesen beiden Kapiteln, die fast nur aus wörtlicher Rede bestehen, zeigt sich Gaddis‘ ganzes Können – unfassbar, dass der Autor zur Zeit des ersten Romanentwurfs nicht mal dreißig Jahre alt war. Gaddis‘ großes Thema ist die Fälschung in all ihren Facetten. Dabei geht es ihm nämlich nicht nur um Wyatts Gemälde oder um die große Menge Falschgeld, die im Roman auch eine wichtige Rolle spielt, sondern auch um all die kleinen Lügen und Betrügereien, die sich im Laufe eines Lebens so ansammeln, sei es aus Selbstschutz oder krimineller Energie. In DIE FÄLSCHUNG DER WELT – der erste Satz des Buches deutet dies schon an – wird alles gefälscht, imitiert, abgekupfert oder vorgetäuscht. Auf dem egoistischen Weg zum eigenen Glück macht jeder jedem etwas vor – Kunstwerke, Geldscheine und Theaterstücke genauso wie Freundschaften, gebrochene Arme und Liebesbezeugungen. Selbst Namen und ganze Lebensentwürfe werden hier munter gewechselt und vorgetäuscht, ein Spiel, dem sich Wyatt – die reine Seele des Romans – zunächst noch entziehen kann, später dann aber notgedrungen doch fügen muss. (Sein richtiger Name wird ab der Kooperation mit Recktall Brown bis zum Ende des Buches überhaupt nicht mehr genannt … ein stilistischer Trick, der es bei der Lektüre mitunter schwierig macht, zu erkennen, ob das wirklich Wyatt ist, der da gerade aufgetaucht ist.)
Um die emotionalen Erlebnisse meiner Lektüre dieses Buches zu beschreiben, würde ich sagen, dass sie in gleichmäßigen Bewegungen zwischen den beiden Polen »Ich schmeiß mich weg, ist das witzig!« und »Ach du Kacke, ich verstehe kein Wort!« hin und her pendelten. Es gab wirklich lange Passagen, bei denen ich nach wie vor nicht genau weiß, was da vor sich ging. Zu Anfang habe ich noch Textstellen markiert und mitgeschrieben. Das habe nach gut zweihundert Seiten aufgegeben; zu groß die Summe der Figuren, zu verworren ihre Handlungen. Dafür wurde ich bei anderen Stellen fürstlich entlohnt. Besonders die beiden oben beschriebenen Kapitel, die ich für das Herzstück des Roman halte, sind schon die Lektüre wert. Es gibt im Laufe der Geschichte viele solcher Szenen, in denen alle Charaktere durcheinanderquatschen und ich völlig den Überblick verlor, wer da gerade wem was erzählt. Hinzu kommt, dass die meisten Figuren nicht gerade Eloquenzbestien sind, ständig den Faden verlieren und ihre Sätze nicht… Aber ist das im wahren Leben nicht genauso? Wenn auf der Familienfeier Onkel Herbert zum x-ten Mal durcheinanderbringt, wie er seine Heidrun kennen gelernt hat? Am Strand von Hiddensee oder im Kinderheim? Oder in der Kneipe, wo alle immer lauter reden, woraufhin der Wirt die Musik lauter dreht, woraufhin alle noch lauter reden, woraufhin der Wirt… Ihr kennt das Spiel. Kurz gesagt: Die ausufernden Dialoge, die nicht selten in totales Wirrwarr führen, sind die große Kunst des Romans.
Worauf ich noch eingehen möchte, ist der Alterungsprozess des Romans: Ist das Buch gut gealtert oder strotzt es vor -ismen aller Art, die heute nicht mehr tragbar sind? – eine Prüfung, die sich Werke, die ein bestimmtes Alter erreicht haben, heutzutage zurecht stellen müssen. Zunächst einmal ist es deutlich zu merken, dass die Übersetzung rund fünfzig Jahre jünger ist als das Original. Marcus Ingendaay gibt der alten Geschichte im Deutschen einen wunderbar locker-modernen Sound, der in der englischen Fassung wohl weitaus ernster und düsterer ist. Besonders die Dialoge glänzen mit jeder Menge Wortwitz und ironischen Bemerkungen.
Da das Buch aus den Vereinigten Staaten zur Mitte des letzten Jahrhunderts stammt, als über die Gleichberechtigung der Frauen noch gelacht wurde und Rassentrennung an der Tagesordnung stand, ist es interessant, wie Gaddis mit diesen Themen umging – erstaunlich progressiv. Da es sich bei DIE FÄLSCHUNG DER WELT um einen Gesellschaftsroman handelt, tauchen natürlich auch rassistische und sexistische Figuren auf, die rassistische und sexistische Dinge tun. Das N-Wort fällt mehrmals und es gibt Gewalt gegen Frauen – wer an solchen Szenen Anstoß nimmt, möge von der Lektüre absehen –, das heißt aber nicht, dass Gaddis das gutheißt, ganz im Gegenteil. Viele der weiblichen Figuren machen sich ordentlich Luft gegen ihre Unterdrückung und der Diener des Bösewichts Brown, ein Afroamerikaner namens Fuller, probt intensiv den Aufstand, um sich von Brown zu befreien. Ich denke, das ist ein ziemlich fortschrittlicher Umgang, zu einer Zeit, in der solche Themen in der amerikanischen Literatur jener Zeit entweder völlig ausgeblendet oder unreflektiert hingenommen wurden.
Ich bin froh, diesen Wälzer nach so langer Zeit nun endlich gelesen zu haben und freue mich auf Gaddis‘ Zweitwerk JR, der erst zwanzig Jahre später erschien. Auch dieser Roman hat eine vierstellige Seitenzahl, besteht zum Großteil aus Dialogen und steht seit Jahren unberührt in meinem Bücherregal. Naja, an diese vorwurfsvollen Blicke bin ich ja nun schon gewöhnt…
DIE FÄLSCHUNG DER WELT erschien in der großartigen Übersetzung von Marcus Ingendaay in der Deutschen Verlagsanstalt, ist mittlerweile aber nur noch antiquarisch erhältlich. Auch auf der Verlagsseite wird leider nicht mehr auf das Buch verwiesen. Das Taschenbuch erschien schon vorher in einer älteren Übersetzung beim Goldmann Verlag, wird dort aber auch nicht mehr angeboten. Auf den einschlägigen Internetseiten werdet Ihr aber noch fündig.
Ist jetzt bestimmt schon wieder 10 Jahre her, dass ich den gelesen habe. Fand vor allem interessant, welche Ähnlichkeit einige der Überlegungen zur Ästhetik mit Adornos „Ästhetische Theorie“ aufweisen, die 15 Jahre später erschien. Hab damals ein bisschen rumgegooglet, ob es vll persönliche Verbindungen gab, aber es handelte sich wohl eher um zwingende Gedanken, die aus 2 Individuen drängten, die sich jeweils intensiv mit Äthetik in Verbindung mit Geschichte und „Fortschritt“ beschäftigt haben.
So interessant sich vieles liest, Formal ist der Roman mE kein großer Wurf. Dialoge ohne jegliche Stimmführung, geschweige denn von Gestaltung eines Drumherums teils über hunderte Seiten; anders als bei Dostojewski, dem Nabokov ähnliches vorwarf, in einer Weise verfasst, dass man leicht nicht mehr mitbekommt, wer spricht. Man mag versuchen, das als Feature zu verkaufen, aber formal gelungene („post“)Moderne Romane vermitteln das Chaos durch ein komplexes aber zwingendes Organisationsprinzip. Dieser Roman verliert sich phasenweise selbst im Chaos.
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