Sasha Marianna Salzmann | AUSSER SICH

D 2017 | 365 Seiten
Suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-42762-0

Ich weiß nicht, wohin es geht, alle anderen wissen es, ich nicht. (Seite 11)

INHALT: Die Zwillingskinder Alissa und Anton sind Anfang der 1990er Jahre neu in Deutschland. Sie kommen aus Russland und finden nur schwer Anschluss in einem Land, das sich kurz nach der politischen Wende erst selbst finden muss. Die Eltern haben ihrerseits die Heimat aufgrund von antisemitischen Anfeindungen verlassen müssen, doch die erhoffte Ruhe ist auch in Deutschland kaum zu finden. In Russland waren sie die Juden, hier sind sie die Russen – eine Familie auf ewiger Flucht; ein Erbe, das seit Generationen weitergereicht wird.

An ein normales Familienleben ist kaum zu denken, und je mehr sich die Eltern gegenseitig in ihren Kleinkriegen zermürben, desto enger schweißt es Alissa und Anton zusammen. Eine Geschwisterliebe, die weit über die gängigen Normen hinausgeht, die die beiden aber all die schweren Jahre überstehen lässt. Als Anton eines Tages spurlos verschwindet und einige Zeit später eine unbeschriftete Ansichtskarte aus Istanbul im Briefkasten liegt, ist sich Alissa sicher, wo sie nach ihrem geliebten Bruder suchen muss. Sie reist in die türkische Metropole, irrt durch die Straßen, verliert sich im Nachtleben, lernt Menschen und deren Geschichten kennen. Und während Istanbul auf eine Protestwelle zusteuert, die in Gewalt und bürgerkriegsähnliche Zustände auszuufern droht, wird Alissa klar, dass ihre Suche nicht nur ihrem Bruder gilt, sondern auch ihr selbst, ihrem Erbe und ihrem Stand im Lauf der Dinge.

FORM: Sasha Marianna Salzmann (*1985) schreibt ihre vier Generationen umfassende Familiengeschichte in erfrischend jugendhaftem Ton. Sowohl die leichten, romantischen als auch die harten Szenen – von denen es mehr als genug gibt – kommen in bildhafter, authentischer Sprache daher. Die Stationen der Familie über ein ganzes Jahrhundert hinweg sind nicht chronologisch geordnet, was manchmal für Verwirrung sorgen kann. Ein Personalverzeichnis zu Beginn des Buches hilft aber dabei, den Überblick über die weit verzweigte Familie zu behalten.

Ein großes Thema – ich würde sogar sagen: das Hauptthema – ist die sexuelle Identität Alissas, die sich während ihrer Odyssee in Ali, einen jungen Mann und Kopie ihres Bruders Anton, umwandelt. Eine Liebesbeziehung mit Katho – ehemals Katharina – bringt Alissa zu diesem Entschluss; eine Umwandlung, die sie mit Testosteronspritzen auf eigene Faust durchzieht. Ein heikles Vorhaben in der straff geführten Türkei. Dass diese Episode im mondänen Istanbul spielt, zu einer Zeit, in der das türkische Volk für seine Freiheit und gegen die Obrigkeit demonstriert – mit Folgen, die bis heute spürbar sind – zeigt, wie aktuell Salzmanns Roman ist, obwohl er zum größten Teil in der Vergangenheit spielt.

FAZIT: So sehr ich den Schreibstil Salzmanns beim Lesen auch gefeiert habe, manche Kapitel haben mich irgendwie nicht erreicht. Ich kann gar nicht genau sagen, woran es liegt, aber selten war ich von einem Buch so hin- und hergerissen wie von diesem. Immer wenn sich bei mir eine gewisse Langeweile ankündigte, folgte eine Szene im Buch, bei der ich dachte: »Grandios! So etwas Intensives haste ja lange nicht gelesen!«, gleich gefolgt vom nächsten Dämpfer. So ging das bis zum Schluss. Vielleicht ist es die Vielzahl von Themen und Episoden, die es so schwer macht, alle Facetten für sich einzunehmen? Vielleicht hätten zweihundert Seiten mehr ganz gut getan?

Für mich bleibt es ein ambivalentes Buch – gekonnt geschrieben, aber in der Gesamtheit zu überladen. Drei Sterne.


Salzmann.PNGAUSSER SICH erschien beim Suhrkamp-Verlag; ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar. Alle weiteren Informationen über den Roman findet Ihr hier. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

 

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