Donald Antrim | MUTTER

USA 2006 | 232 Seiten
OT: »The Afterlife: A Memoir«
aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl
Rowohlt
ISBN: 978-3-499-29027-5

Meine Mutter Louanne Antrim starb an einem schönen Sonntagmorgen im Monat August des Jahres 2000. (Seite 7)

Donald Antrims Mutter war eine Frau, die immer das Maximum verlangte – von ihren Männern, ihren Kindern, ihrem Körper und vom Leben selbst. Sie rauchte wie ein Schlot und trank wie ein Loch, lebte und liebte permanent an der Grenze zur Selbstzerstörung. Sie hielt sich für eine Künstlerin, ihrer Zeit weit voraus, sprach mit Geistern und wähnte sich als höheres Wesen. Dass sie damit alle Personen in ihrem näheren Umfeld immer wieder vor den Kopf stieß, steht außer Frage, nur leider besaß sie die natürliche Gabe zur Selbstreflexion nicht. Sie starb mit fünfundsechzig an Lungenkrebs.


Über diese Frau zu schreiben, muss für Donald Antrim (*1958) zu gleichen Teilen Erleichterung und Trost gewesen sein, denn es ist klar, dass die Beziehung zu seiner Mutter ein jahrzehntelanger Kampf zwischen Liebe und Hass gewesen war. Antrims Kindheit war geprägt von den Ausschweifungen seiner Mutter, physische und psychische Erniedrigungen standen an der Tagesordnung. Dabei bleibt Antrim in seinem Text aber immer fair, führt niemanden vor und macht sich nicht lustig. Dennoch ist er aufrichtig, wenn er zum Beispiel schreibt, wie peinlich es ihm war, mit seiner Mutter in der Öffentlichkeit gesehen zu werden, oder – ein großes Thema auch in Jugendbüchern – wie er sich wünschte, sie würde endlich sterben.

Doch Antrims Mutter ist nicht alleiniger Fokus dieser Biografie, auch andere Familienmitglieder werden beschrieben, beobachtet und analysiert. Onkel Eldridge beispielsweise, Donalds Lieblingsonkel in Kindheitstagen, den mit Ende fünfzig der Alkohol aus dem Leben reißt. Interessant ist hier zu sehen, wie aus einer Person, zu der man früher aufblickte, ein armes Schwein wird, für das man später nur noch müdes Mitleid aufbringen kann.

Doch nicht alles in diesem Buch ist trostlos und dramatisch, es gibt auch humorvolle Passagen. Die Geschichte eines Freundes der Antrims, der glaubt, einen echten da Vinci gefunden zu haben, oder die Beschreibungen der von Louanne selbst entworfenen Kundstkleider lockern den Text in genau richtigem Maße auf. Der Schreibstil erinnerte mich ein wenig an den der Romane der Ortsumgehung von Andreas Maier, der mit ganz ähnlichem Duktus seine Familie beäugt.

Donald Antrims Gesamtwerk ist nicht gerade dick. Drei Romane, eine Biographie und eine Kurzgeschichtensammlung in rund zwanzig Jahren Schaffensphase – alles in Allem gut tausend Seiten, die locker in einem Band veröffentlicht werden könnten. Dennoch halte ich ihn für einen der größten Schriftsteller der amerikanischen Literatur. Seine Romane sind aberwitzige Grotesken voller beißender Komik und Leid und Blut und gehören zu meinen All-Time-Favourites.

In MUTTER schlägt Antrim einen anderen Ton an, sehr viel zarter und nicht so dick aufgetragen, was beweist, wie wichtig ihm das Thema ist. Den abgefahrenen Humor, den er früher wie ein Schutzschild vor sich hielt, legt Antrim hier ab und offenbart das Herz eines mitfühlenden Mannes und liebenden Sohnes. Zu Lebzeiten fragte Louanne ihren Donnie einmal, ob er sein nächstes Buch ihr widmen würde, was er verneinte, worauf sie beleidigt war. Sechs Jahre nach ihrem Tod erfüllte er ihr den Wunsch.


71T3gi7RJGLMUTTER erschien beim Rowohlt-Verlag als Taschenbuch. Alle Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet Ihr hier. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

Die  Antrim-Romane im Überblick:
WÄHLT MR. ROBINSON FÜR EINE BESSERE WELT
DIE HUNDERT BRÜDER
DER WAHRHEITSFINDER

3 Gedanken zu “Donald Antrim | MUTTER

  1. Sehr schön. Macht Lust drauf. Freue mich schon auf „In Einem Anderen Land“. Eines meiner Lieblingsbücher. Wann gibt’s bei dir „Das Licht“ von Boyle? Kann ich empfehlen.

    Gefällt 1 Person

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