So, das Jahr ist in ein paar Stunden beendet – Zeit für eine kleine Rückschau.
2022 war für mich ein Jahr voller Herausforderungen und Umbrüche. Ich habe noch nie so viel parallel zu meinem eigentlichen Job (der nichts mit Literatur zu tun hat) gearbeitet – Moderationen, Jury-Aufgaben, Radiobeiträge, Texte für Zeitschriften usw. Der Großteil meiner Freizeit ging für literarische Nebenbeschäftigungen drauf, mal abgesehen vom Lesen der Bücher, was ja die Grundvoraussetzung des Ganzen ist. Ich will mich darüber nicht beklagen, die Literatur und die Arbeit in diesem Bereich ist etwas, was mich unfassbar bereichert und bei dem ich mein Herz verloren habe. Aber gerade die letzten Wochen und Monate haben mir gezeigt, dass auch meine Belastbarkeit Grenzen hat und sich unbedingt etwas ändern muss … und daran arbeite ich derzeit.
Die größten Herausforderungen waren für mich auch gleichzeitig die besten Momente des Jahres. Da war zum Einen die Mitarbeit in der Fachjury für den Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern. Zusammen mit Siv Stippekohl vom Norddeutschen Rundfunk und dem Schriftsteller Gregor Sander habe ich mich wochenlang durch mehr als siebzig Einsendungen gearbeitet. In mehreren Online-Meetings haben wir diskutiert, gestritten, verteidigt und abgestimmt – natürlich immer sehr fair und freundschaftlich –, und den Preis bei der Abschlussveranstaltung im Kunstmuseum Ahrenshoop schließlich der Autorin Anne Martin verliehen. (Hier könnt Ihr den NDR-Beitrag abrufen. Der Glatzkopp im Anzug bin ich – Ja: ich war mega aufgeregt und Ja: sie haben meinen Namen falsch geschrieben!) Der Text DER FREIE WILLE VON DREI KILOGRAMM EINZELLERN – der uns allen am besten gefallen hat und an diesem Abend auch den Publikumspreis gewann – ist Teil eines längeren Projektes, an dem Anne gerade arbeitet. Ich hoffe sehr, der Literaturpreis gibt ihr die Motivation, den Text fertigzustellen und die Möglichkeit, einen Verlag zu finden. Auf die gleiche Weise ist es in der Vergangenheit Berit Glanz mit PIXELTÄNZER und Slata Roschal mit 153 FORMEN DES NICHTSEINS gelungen, die große Bühne zu betreten. Die Preisverleihung war ein toller und sehr aufregender Abend. (An dieser Stelle ein persönlicher Gruß an Siv und Gregor, falls Ihr das hier lest: Es war mir eine große Freude, mit Euch zusammen diese Aufgabe zu bestreiten!)
Drei andere, ähnlich aufregende Abende verbrachte ich als Moderator auf der Bühne. Im Mai durfte ich die Lesung der wunderbaren Heike Geißler im Literaturhaus Rostock übernehmen, die dort ihren Roman DIE WOCHE vorstellte, mit dem sie kurz zuvor noch auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse stand. Im Oktober dann wurde ich angefragt, ob ich die Lesung mit Gregor Sander mit seinem Buch LENIN AUF SCHALKE in der Rostocker Hugendubel-Filiale übernehmen wolle. Da ich Gregor bei der Jury für den Literaturpreis gerade erst kennen und schätzen gelernt hatte, sagte ich natürlich zu und verbrachte einen großartigen Abend vor vollem Haus. Den dritten Auftritt vor Publikum gab es dann im Dezember für das Format „3:3“ des Literaturhauses Rostock. Martina Bade, Emily Grunert und ich haben nach Vorbild des „Literarischen Quartetts“ fast zwei Stunden lang über aktuelle Romane diskutiert und jede Menge persönliche Leseempfehlungen gegeben. Danach waren wir uns einig, dass dieser Abend dringend Fortsetzungen braucht – eine halbjährige Regelmäßigkeit ist in Planung, worauf ich mich jetzt schon freue.
Doch kommen wir nun zu meinen Büchern des Jahres. Ich habe 2022 etwas mehr gelesen als in den Jahren davor – 55 Bücher mit insgesamt fast 20.000 Seiten –, doch haben es deutlich weniger Rezensionen als sonst auf meinen Blog geschafft. Ein Grund dafür ist, dass ich damit begonnen habe, Hörbücher zusammen mit meinem Sohn zu hören. Diese Bücher nehme ich natürlich in meine Statistik auf, rezensiere sie aber nicht. Mit dabei waren unter anderem Andy Weirs DER MARSIANER, Suzanne Collins‘ Trilogie um DIE TRIBUTE VON PANEM und Wolfgang Herrndorfs TSCHICK (von dem ich schon ganz vergessen hatte, wie grandios es ist). Auch hatte ich ein paar Bücher gelesen, die ich im Nachgang als zu omnipräsent empfand. Fatma Aydemirs DSCHINNS zum Beispiel, das mir eigentlich ganz gut gefiel, wurde dermaßen oft besprochen, dass ich keinerlei Lust dazu hatte, als Sechshunderteinundzwanzigster noch meinen Senf dazuzugeben – es wurde einfach schon alles darüber gesagt.
Eine Gurke des Jahres, die diesen Titel auch verdienen würde, gab es 2022 nicht. Ein paar Bücher gaben mir nicht so viel und einige Romane blieben hinter den Erwartungen zurück, aber so richtig aufgeregt hat mich kein Text. Im Gegenteil, mit dem Großteil meiner Lektüren war ich sehr zufrieden. Hier also nun meine Top-Ten des Jahres 2022 in chronologischer Reihenfolge:
- Joshua Cohen | WITZ
- Heike Geißler | DIE WOCHE
- Percival Everett | ERSCHÜTTERUNG
- Joyce Carol Oates | BLOND
- Ulrike Haidacher | DIE PARTY
- Daniela Dröscher | LÜGEN ÜBER MEINE MUTTER
- Gregor Sander | LENIN AUF SCHALKE
- Ian McEwan | LEKTIONEN
- Wlada Kolosowa | DER HAUSMANN
- Elias Hirschl | SALONFÄHIG
Eines dieser zehn Bücher als bestes herauszupicken, fällt mir in diesem Jahr sehr schwer. WITZ war zweifelsohne der anspruchsvollste Roman, DER HAUSMANN der innovativste. Bei DIE PARTY habe ich gelacht wie selten, bei LÜGEN ÜBER MEINE MUTTER geweint wie nie. Ich verzichte dieses Jahr auf den Titel Buch des Jahres – sie sind alle großartig.
Was das nächste Jahr bringen wird, kann niemand sagen. Ich hoffe, dass alle ihren Weg finden, glücklich zu werden, und dass sich die internationale politische Lage deutlich entspannt. Ich bin kein politischer Mensch und äußere mich selten zu solchen Themen, da ich nur ungern über Dinge spreche, von denen ich wenig Ahnung habe – eine Eigenschaft, auf die ich sehr stolz bin, und die ich mir bei vielen anderen wünschen würde. Doch natürlich haben auch mich einige Entwicklungen des letzten Jahres – allen voran der (nach wie vor andauernde) russische Angriffskrieg auf die Ukraine – ordentlich mitgenommen und dazu gebracht, viele Dinge, die ich für selbstverständlich gehalten hatte, zu überdenken. Ich hoffe sehr, dass das kommende Jahr mit weniger Sorgen einhergeht, auf dass wir uns wieder mehr dem Schönen und Guten widmen können. Kunst und Kultur, ganz gleich welcher Art, sind ebenso wichtig wie Wasser und Luft. Wir gehen ins Kino, ins Theater, ins Museum, gehen tanzen, hören Musik, lesen Bücher, malen Bilder, schreiben Texte – ohne Kultur wäre unsere Gesellschaft einfach nur ein großer Irrtum. Lasst uns das nicht vergessen.
Kommt gut ins nächste Jahr!
Euer Bookster Stefan
Ein schöner Lese- und Jahresbericht. Ich werde mir mal den „Witz“ und „Der Hausmann“ ansehen und bin schon sehr gespannt. Viel Zeit, Energie und Inspiration für das nächste Jahr!
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Gute Wahl, viel Freude beim Lesen!
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Ein schöner Bericht und eine interessante Auswahl an Büchern. Lügen über meine Mutter gehört auch zu meinen Highlights.
Komm gut ins neue Jahr, ich wünsche Dir, dass das Überdenken Früchte trägt und freue mich, von all den schönen neuen Aufgaben zu lesen. Ja, es war ein durchwachsenes Jahr, hoffen wir auf einen Aufwärtstrend in allen Belangen! Und natürlich auf stets gute Lektüren. Viele Grüße, Ines
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Mal sehen, was das Jahr so bringt, hoffentlich mehr Freude als Sorge. Wir sehen uns bestimmt auf der LBM23, oder? Bis dann…
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Lieber Bookster, vielen lieben Dank für Deine sehr guten Rezensionen & Buchtipps im zu Ende gehenden Jahr 2022. Es war immer wieder interessant für mich.
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„ohne Kultur wäre unsere Gesellschaft einfach nur ein großer Irrtum.“
So ist es. In diesem Sinn: ein frohes neues Jahr! PS: Es kommt übrigens wieder ein neuer Band der „Ortsumgehung“.
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Oh, das sind ja gute Neuigkeiten. Danke für den Hinweis! 🙏✌️
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