Rebecca F. Kuang | BABEL

UK 2022 | 736 Seiten
OT: »Babel: Or the Necessity of Violence«
Aus dem Englischen von Alexandra Jordan und Heide Franck
Eichborn Verlag
ISBN: 978-3-8479-0143-3

Als Professor Richard Lovell den Weg durch die schmalen Gassen von Kanton zu der verblichenen Adresse aus seinem Kalender gefunden hatte, war in dem Haus nur noch der Junge am Leben.

(Seite 19)

Eine literarische Disziplin, die gar nicht hoch genug gewürdigt werden kann, ist das Übersetzen, die Translation eines Textes von einer Sprache in eine andere. Dabei kommt es nicht nur darauf an, den fremdsprachigen Inhalt verständlich zu machen, sondern auch den Sound und die Atmosphäre des Originals möglichst unverfälscht zu übertragen, und für eventuelle Slangausdrücke, Dialekte und Wortspiele geeignete Entsprechungen in der Zielsprache zu finden. Das Übersetzen ist eine Kunst für sich, und diejenigen, die sich dieser Aufgabe stellen, sind Künstlerinnen und Künstler! (mic drop!)

Dennoch kann man sagen, dass keine Übersetzung je ganz exakt den Kern des Originals trifft; selbst die besten Arbeiten kommen nur sehr dicht ran. Das liegt an der unterschiedlichen Geschichte, der Etymologie vieler Wörter. Bei Sprachen, die dengleichen Ursprung haben – Italienisch und Spanisch zum Beispiel – mag es noch relativ einfach sein, einen Satz verlustfrei zu übersetzen. Ein Schriftzeichen, das im Kantonesischen aber das Gleiche beschreibt wie ein Wort im Finnischen, hat eine völlig andere Entstehungsgeschichte. Bei jedem Versuch, diese beiden in Verbindung zu bringen, geht also zumindest die Historie verloren … wie die Spähne beim Hobeln. Rebecca F. Kuang verleiht in ihrem Fantasyroman BABEL dieser Spähne eine Zauberkraft, mit der sich das ganze britische Imperium seine Weltmachtstellung sichert.

Robin Swift – die Hauptfigur des Romans – ist ein armer Waisenjunge aus Kanton, der Anfang des 19. Jahrhunderts von einem Gelehrten adoptiert und nach England gebracht wird. Dort wächst er behütet auf und bekommt ein Stipendium in der Universitätsstadt Oxford, wo er im Babel genannten Turm für Sprachwissenschaften zum Übersetzer ausgebildet wird. Das Übertragen von Texten ist aber nicht Hauptaufgabe der in Babel Arbeitenden. Im obersten Stockwerk werden magische Silberbarren gegossen und auf deren Seiten Wörter unterschiedlicher Sprache graviert. Die Wörter bedeuten das Gleiche, das Unübersetzbare zwischen ihnen aber verleiht dem Barren eine Zauberkraft, die für unterschiedlichste Zwecke genutzt werden kann. Je nachdem welche Wörter auf den Seiten der Barren stehen, werden Häuser stabiler, Kutschen schneller oder Blumen farbenfroher. Robin nimmt sich der Aufgabe fleißig an, merkt aber schnell, dass das Empire diese Kraft auch zur Unterdrückung anderer Völker einsetzt.


Was beim Lesen sofort klar wird: Rebecca F. Kuang ist eine Sprachexpertin. Die Amerikanerin chinesische Herkunft studierte Geschichte, hat einen Master of Philosophy, arbeitete in Cambridge und Yale, schreibt mit großem Erfolg Fantasyromane, für die sie bisher mit Preisen überhäuft wurde … und ist noch nicht mal dreißig Jahre alt! Ihr mittlerweile vierter Roman BABEL strotzt nur so vor fast philosophisch zu bezeichnenden Überlegungen zu Sprache, Übersetzung und Etymologie. Viele der über siebenhundert Seiten des Romans drehen sich um die Historie von Wörtern verschiedenster Sprachen, was meines Erachtens fast zu viel des Guten ist. Wie nebenbei erzählt Kuang aber auch eine Geschichte über den Kolonialismus und den Machtmissbrauch, mit dem sich Imperien in der Vergangenheit – und auch heute noch – über andere Länder erheben und sie Untertan machen. Und natürlich geht auch um Freundschaft, Zusammenhalt und den Mut zur Revolte.

Auch wenn Fantasy nicht gerade ein Genre ist, bei dem ich jederzeit blind zugreife, hat mich BABEL sehr überzeugt. Vielleicht ist das Buch ein bisschen zu lang, dennoch überwiegen interessante Themen, vielschichtige Charaktere und ein wahrlich fulminantes Ende. Fantasy-Romane für Jugendliche sind ja heutzutage oft als Reihen angelegt, eine Mode, die mich mittlerweile ziemlich nervt, weil ich dahinter immer Gewinnmaximierung wittere. BABEL dagegen ist endlich mal ein herrlich auserzählter Roman, der weder ein Sequel noch ein Prequel oder ähnliche Fortsetzungen braucht. Ich hoffe sehr, das Buch bleibt einfach als gute, rund erzählte und gelungene Geschichte so stehen, wie sie ist. Fazit: Sehr lesenswert!


BABEL erschien in der Übersetzung von Alexandra Jordan und Heide Franck im Eichborn Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

4 Gedanken zu “Rebecca F. Kuang | BABEL

  1. Danke vielmals für diesen Bericht betreffend die Wichtigkeit der Sprachen. Ich bin besorgt, weil ich den Eindruck habe, dass man sich mehr und mehr darauf konzentriert alles abgekürzt und der heutigen Zeit gemäss auszudrücken !

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