Rebecca F. Kuang | BABEL

UK 2022 | 736 Seiten
OT: »Babel: Or the Necessity of Violence«
Aus dem Englischen von Alexandra Jordan und Heide Franck
Eichborn Verlag
ISBN: 978-3-8479-0143-3

Als Professor Richard Lovell den Weg durch die schmalen Gassen von Kanton zu der verblichenen Adresse aus seinem Kalender gefunden hatte, war in dem Haus nur noch der Junge am Leben.

(Seite 19)

Eine literarische Disziplin, die gar nicht hoch genug gewürdigt werden kann, ist das Übersetzen, die Translation eines Textes von einer Sprache in eine andere. Dabei kommt es nicht nur darauf an, den fremdsprachigen Inhalt verständlich zu machen, sondern auch den Sound und die Atmosphäre des Originals möglichst unverfälscht zu übertragen, und für eventuelle Slangausdrücke, Dialekte und Wortspiele geeignete Entsprechungen in der Zielsprache zu finden. Das Übersetzen ist eine Kunst für sich, und diejenigen, die sich dieser Aufgabe stellen, sind Künstlerinnen und Künstler! (mic drop!)

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Toine Heijmans | DER UNENDLICHE GIPFEL

NL 2021 | 352 Seiten
OT: »Zuurstofschuld«
Aus dem Niederländischen von Ruth Löbner
Mairisch Verlag
ISBN: 978-3-948722-25-8

Jedes Geräusch kommt von mir, und es ist ohrenbetäubend.

(Seite 9)

Für alle, die es noch nicht wussten: Das HRO in Bookster HRO steht für die Hansestadt Rostock, es ist das Kfz-Kennzeichen. Ich lebe also an der wunderschönen Ostseeküste. Hier ist es herrlich – warme Sommer, milde Winter, kilometerlange Strände und eine Badesaison von Ostern bis Oktober. Womit Rostock allerdings nicht glänzen kann, sind Berge. Das Viertel, in dem ich wohne, liegt in der verhältnismäßig schwindelerregenden Höhe von 23 Metern über Null. Tja, hier kann man sehr bequem Fahrrad fahren, rauhe Felswände erklimmen eher nicht. Walter Welzenbach – Ich-Erzähler in Toine Heijmans‘ Roman DER UNENDLICHE GIPFEL – käme hier wohl kaum auf seine Kosten.

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Olga Tokarczuk | EMPUSION

PL 2022 | 384 Seiten
OT: »Empuzjon. Horror przyrodoleczniczy«
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein
Kampa Verlag
ISBN: 978-3-311-10044-7

Die Rauchwolken der Dampflokomotive, die über den Bahnsteig quellen verdecken die Sicht.

(Seite 11)

Thomas Manns DER ZAUBERBERG ist einer jener Romane, von denen ich behaupten würde, dass sie zwar in vielen heimischen Buchregalen stehen, heute aber kaum noch aus freien Stücken gelesen werden. Zu zäh, zu alt, zu fett. Außerdem hat sich die Welt in den letzten hundert Jahren ordentlich weitergedreht und in vielerlei Hinsicht ist dieses Monstrum von einem Buch, das seit Ewigkeiten zum sogenannten Kanon der Weltliteratur gehört, eher schlecht gealtert. Lauter privilegierte Männer belehren sich tausend Seiten lang über Politik und Philosophie mit einem Wissensstand, der zurzeit der Veröffentlichung schon antiquiert war. Wer will so etwas – besonders in Anbetracht aktueller Debatten – heute noch ernsthaft lesen? Es wird Zeit für eine Neubewertung dieses Schinkens, und den Anfang macht niemand Geringeres als: Olga Tokarczuk

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Lee Cole | KENTUCKY

USA 2022 | 416 Seiten
OT: »Groundskeeping«
Aus dem Englischen von Jan Schönherr
Rowohlt Hundert Augen
ISBN: 978-3-498-00270-1

Seit ich denken kann, stecke ich in derselben Zwickmühle.

(Seite 9)

Kentucky ist einer jener typischen flyover states, in dem statt boomenden Metropolen kleine Siedlungen die Landkarte zieren. Die Leute dort sind im Schnitt konservativ und stehen progressiven Ideen traditionell eher skeptisch gegenüber. Owen, ein junger Mann, der nach einigen Jahren der Sinnsuche wieder in seine alte Heimat zurückkehrt, um dort zu studieren, kommt bei seinem Großvater und seinem Onkel unter, einfachen und etwas scheuen Menschen, mit denen Owen außer dem Familienstammbaum wenig gemein hat.

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Yoko Ogawa | DAS MUSEUM DER STILLE

JPN 2000 | 352 Seiten
OT:
»沈黙博物館«
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler
Liebeskind Verlag
ISBN: 978-3-95438-160-9

Bei meiner Ankunft im Dorf hatte ich nichts weiter bei mir als eine kleine Reisetasche.

(Seite 5)

Nachdem ich Anfang des Jahres endlich mal ein Buch von Yoko Ogawa gelesen habe – einer Autorin, die schon sooo lange auf meinem Zettel steht –, wurde es schnell Zeit für ein zweites. Ähnlich wie DER DUFT VON EIS ist auch DAS MUSEUM DER STILLE ein etwas älterer Roman, in diesem Fall handelt es sich sogar um eine Neuauflage mit angepasstem Cover. Auch das Grundmotiv passt zum Vorgänger, denn auch hier geht es ums Sammeln und Konservieren, zwar nicht von Gerüchen, dafür aber von Andenken der besonderen Art.

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John Irving | DER LETZTE SESSELLIFT

USA 2022 | 1088 Seiten
OT: »The Last Chairlift«
Aus dem amerikanischen Englisch von

Anna-Nina Kroll und Peter Torberg
Diogenes Verlag
ISBN: 978-3-257-07222-8

Meine Mutter gab mir den Namen Adam, Sie wissen schon, nach wem.

(Seite 15)

Die lange Zeit des Wartens ist vorüber: Mit über achtzig Jahren hat der Bestsellerautor John Irving seinen mittlerweile fünfzehnten Roman veröffentlicht, der mit über tausend Seiten selbst für seine Verhältnisse sehr umfangreich geraten ist. Mit einer solchen Seitenzahl kann DER LETZTE SESSELLIFT mit Klassikern wie MOBY DICK mithalten, dem Roman, der Irvings Ich-Erzähler Adam Brewster als Kind Seite für Seite in einem Jahre währenden Aufwand vorgelesen wurde. Ob Irvings neuestes Buch selbst das Zeug zum Klassiker hat, bleibt abzuwarten, eine epische Familiengeschichte mit den typischen Zutaten ist ihm in jedem Fall gelungen.

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Kurt Vonnegut | DIE SIRENEN DES TITAN

USA 1959 | 352 Seiten
OT: »The Sirens of Titan«
Aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt
Heyne Verlag
ISBN: 978-3-453-32258-5

Heutzutage weiß jeder, wie man den Sinn des Lebens in sich selbst findet.

(Seite 15)

Bei jeder Neuerscheinung eines Buches von Kurt Vonnegut bin ich sofort dabei. Diesmal ist es sein zweiter Roman DIE SIRENEN DES TITAN von 1959, der zwar nicht neu übersetzt – Harry Rowohlt leistete damals sehr gute Dienste –, dafür aber überarbeitet und mit einem lesenswerten Vorwort von Denis Scheck versehen wurde. Die Story in halbwegs verständliche Sätze zu kleiden, ist nicht einfach, ich versuche es dennoch:

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Zain Khalid | BRUDER

USA 2022 | 464 Seiten
OT: »Brother Alive«
Aus dem Amerikanischen von Eva Regul
Kjona Verlag
ISBN: 978-3-910372-02-3

Was soll ich dir antworten, wenn du fragst?

(Seite 11)

Der folgenden Rezension möchte ich eine Einführung voranstellen. Da gibt es nämlich diesen neuen Verlag Kjona aus München, der Ende 2022 intensiv mit seiner Neugründung geworben und auf seine Philosophie hingewiesen hat. Die großen Stichworte dabei waren Nachhaltigkeit, Fairness und Unabhängigkeit. Die Produktion der Bücher sei klimaneutral und alle Beteiligten würden gleichberechtigt bezahlt.

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Anselm Oelze | PANDORA

D 2023 | 464 Seiten
Schöffling Verlag
ISBN: 978-3-89561-134-6

Der Anruf kam zur Unzeit.

(Seite 9)

Was ich total mag, sind Geschichten, in denen völlig unterschiedliche Charaktere auf verschiedenen Wegen auf ein gemeinsames Schicksal zusteuern. Ein Hollywood-Film, der diese Erzählweise in Perfektion darbietet, ist P. T. Andersons Drei-Stunden-Epos MAGNOLIA, den ich auch nach über zwanzig Jahren und dutzenden Durchläufen immer noch als ein grandioses Meisterwerk feiere. Anselm Oelze hat sich für seinen neuen Roman dieser Art der Konstruktion bedient und liefert mit PANDORA ein ambitioniert komplexes Buch, das stark beginnt und endet, im Mittelteil aber deutliche Durchhänger hat.

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Annika Reich | MÄNNER STERBEN BEI UNS NICHT

D 2023 | 208 Seiten
Hanser Berlin
ISBN: 978-3-446-27587-4

Als ich die erste tote Frau entdeckte, war ich noch keine zehn Jahre alt und wollte angeln.

(Seite 9)

Was innerhalb einer Familie – abgesehen von materiell mehr oder minder wertvollen Dingen – grundsätzlich mitvererbt wird, sind Scham- und Schuldgefühle. Je wohlhabender und mächtiger die Familie ist, desto größer wird die immaterielle Last, die auf den Erben liegt. In Annika Reichs neuem Roman MÄNNER STERBEN BEI UNS NICHT bekommt die Ich-Erzählerin Luise das Gewicht einer solchen Bürde zu spüren und droht daran zu zerbrechen.

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