USA 2021 | 384 Seiten
OT: »Harlem Shuffle«
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Carl Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-27090-9
Für den Raubüberfall holte ihn sein Cousin Freddie eines heißen Abends Anfang Juni ins Boot.
(Seite 11)
Es sind die späten 50er Jahre in Harlem, dem schwärzesten Stadtteil New York Citys. Ray Carney — Ehemann und Vater — versucht sich als rechtschaffender Möbelverkäufer auf den stark umkämpften Handelsstraßen über Wasser zu halten. Er verkauft teure Designerstücke genauso wie gebrauchte Sitzkombis — ihm ist das einerlei; Hauptsache, es bringt etwas Asche ein. Da das mit dem Geld verdienen damals wie heute aber so eine Sache ist, lässt er sich auch ab und zu mit Diebesgut ein, das er bei Kontaktmännern verhökert, gern auch Artikel jenseits der Möbelkataloge, vorzugsweise Edelsteine. Sein großer Traum ist es, mit seiner Familie die ärmliche Wohngegend zu verlassen und in einer etwas nobleren Gegend heimisch zu werden. Das wollen viele, doch meistens bleiben es Träume.
Anders als Ray tickt dessen Cousin Freddy, der nie in Kategorien wie Ausbildung, ehrliche Arbeit oder Sparen denkt. Freddy war schon immer ein Gauner und jagt dem schnellen Geld hinterher wie Wile E. Coyote dem Road Runner (Meep-Meep!). Dass sich Freddy dabei immer wieder die Finger verbrennt, sollte Ray eigentlich ausreichend Warnung sein, aber die beiden — so unterschiedlich sie auch sein mögen — sind im Herzen tief verbunden. Sie sind zusammen aufgewachsen und haben auf dem harten Pflaster Harlems viel durchgemacht. Ray kann einfach nicht anders, als Freddy einiges durchgehen zu lassen, springt immer wieder auf krumme Touren mit ihm auf und muss ihm öfter aus dem Schlamassel helfen, als es ihm lieb sein kann. Spätestens beim riskanten Coup im Hotel Theresa, bei dem sie sich endgültig mit den falschen Typen einlassen, läuft für Ray alles aus dem Ruder. Er gerät ins Visier zwielichtiger Polizisten und muss sich mit Schlägern und Erpressern rumärgern, die ihm auf Jahre das Leben vermiesen. Und immer versucht er den Schein des liebenden Familienmenschen und ehrlichen Möbelhändlers aufrecht zu halten.
Colson Whitehead, der spätestens seit seinem Welterfolg UNDERGROUND RAILROAD auch hierzulande in aller Munde ist, legt mit HARLEM SHUFFLE einen komplexen Kriminalroman vor, bei dem ich mich die ersten zwei Drittel doch recht schwer getan habe. Die reine Gaunergeschichte, auf die ich mich sehr gefreut habe, nimmt trotz vieler interessanter Verwicklungen eigentlich gar nicht so viel Platz ein. Leider versteckt Whitehead den Plot unter viel zu vielen Nebensträngen und Abzweigungen, sodass mein Fokus immer wieder unterbrochen wurde. Eigentlich mag ich solche Ablenkungsmanöver sehr gern, aber bei diesem Roman fand ich das eher störend als bereichernd. Irgendwann gab ich die Versuche auf, der Kriminalgeschichte irgendeinen Nährwert für mich abzuringen, ließ mich treiben und schloss meinen Frieden mit der Erkenntnis: HARLEM SHUFFLE ist gute Unterhaltung, mehr aber auch nicht.
Eines jedoch kann ich Whitehead nicht absprechen: Er weiß, wie man eine Geschichte authentisch in Szene setzt. Ich war noch nie in New York und erst recht nicht im Harlem von vor siebzig Jahren; dank der wunderbaren Beschreibungen jenes von Legenden umwobenen Stadtteils, kann ich mir das Leben und Treiben dort aber nahezu plastisch vorstellen. Die vollen Straßen, die dreckigen Ecken, die alten Gebäude und all die Leute, die das Viertel bevölkern — alles wirkt lebendig, nichts konstruiert. Neben Ray und Freddy kann Harlem ohne Weiteres als Hauptfigur benannt werden, es ist ja quasi schon der Titelheld. Diesbezüglich zeigt Colson Whitehead seine wahre Meisterschaft und selbst wenn ich mit der Geschichte nicht so recht warm wurde, behalte ich den Roman als Denkmal für Harlem in guter Erinnerung.
HARLEM SHUFFLE erschien im Hanser Verlag, dem ich herzlich für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick auf Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.
Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
Mich hat der Text auch atmosphärisch nicht überzeugt… Der Stil ist in der deutschen Übersetzung ultra-nüchtern. Alle Figuren klingen sehr ähnlich, das angeblich so lebendige Harlem wird niemals in einer entsprechenden Sprache reflektiert. Vll (wahrscheinlich) bedient sich das Original lokaler Dialekte und Soziolekte, aber ich fürchte selbst dann klänge es im Vergleich zB mit Morrissons „Jazz“ oder manchen Harlem Rennaissance Roman noch sehr nach neue Neue Sachlichkeit.
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[…] bei BooksterHRO und Sandra Falke findet ihr […]
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