Slata Roschal | 153 FORMEN DES NICHTSEINS

D 2022 | 176 Seiten
Homunculus Verlag
ISBN: 978-3-946120-94-0

Eine alte Frau mit blondierten Haaren und pink geschminkten Lippen steht vor dem Obststand im Einkaufscenter.

(Seite 5)

Was es heißt, zwischen den Welten aufzuwachsen, die Heimat zu verlassen, woanders aber nie so richtig anzukommen, davon erzählt Slata Roschal in ihrem Debütroman 153 FORMEN DES NICHTSEINS. Die Biografien der Autorin und ihrer Ich-Erzählerin Ksenia Lindau haben einige Überschneidungen: Beide kamen im Alter von vier Jahren mit den Eltern aus Russland nach Deutschland, werden hier nach wie vor als Russinnen angesehen – mitunter auch mit Argwohn und Abneigung –, gelten in Russland aber unwiderruflich als Deutsche. Roschal weiß also, worüber sie schreibt, wenn sie Ksenia auf die Suche nach ihrer Identität schickt. Doch das Hängenbleiben zwischen zwei Ländern ist nicht das einzige Thema dieses vielschichtigen Buches.

Auch im Glauben findet Ksenia keine richtige Bleibe. Ihr Großvater ist Jude – eine Religion, die das Mädchen stark beeinflusst –, ihre Eltern dagegen gehören den Zeugen Jehovas an. Ksenia erfährt eine strenge Erziehung, die körperliche Züchtigungen nicht ausschließt, alle säkularen Freuden dagegen schon. Auch Weihnachten, Ostern, ja selbst Geburtstage werden nicht gefeiert, Regeln, die sie im christlich geprägten Deutschland noch deutlicher zu einer Außenseiterin machen. Doch sie ist ein kluges Mädchen und hinterfragt die ihr auferlegten Normen immer wieder. Sie emanzipiert sich von ihrem Elternhaus, wird erwachsen, bekommt einen Sohn und beginnt ein wissenschaftliches Studium. Die Lücken in ihrer Identität aber bleiben groß und sie steuert nach und nach in eine Art Apathie – es fällt ihr immer schwerer, die nötige Motivation aufzubringen, für das eigene Glück zu sorgen. Ob Ksenia letztlich zu einem Ergebnis kommt, das ihr, wenn schon keine Erlösung, so doch ein Gefühl des Ankommens beschert, bleibt offen.


Der Roman aber ist mehr als nur ein Buch über eine Selbstfindung, denn Form und Stil des Textes ergeben eine Art Collage, ein Stückwerk, ein Flickenteppich, in den Ksenias Lebensweg eingenäht ist. Die titelgebenden hundertdreiundfünfzig oft sehr kurzen Kapitel decken so ziemlich die gesamte Bandbreite möglicher Textarten ab. Der Großteil ist herkömmliche, handwerklich gut gemachte Kurzprosa, doch dazwischen gibt es Briefe, Tagebucheintragungen, Gedichte, Rundmails, Gottesdienste, Ebay-Suchergebnisse und jede Menge mehr. Einer chronologischen Ordnung folgen die Teilstücke nicht, es ist eher der Versuch die komplexe Welt darzustellen, in der sich Ksenia zurechtfinden muss. Ob alle Texte für sich gleich gut funktionieren, darüber kann man streiten – ein Kapitel besteht zum Beispiel nur aus einer umrahmten Seite als Platzhalter für eigene Notizen –, das ganze Konstrukt jedoch als biografische Collage ergibt schlussendlich ein durchaus stimmiges Bild.

Slata Roschal – 1992 in St. Petersburg geboren, in Schwerin aufgewachsen – konnte bereits kleine Bände mit Erzählungen und Gedichte veröffentlichen. An ihrem Debütroman hat sie eine verhältnismäßig lange Zeit gearbeitet. Bereits 2018 gewann sie für Auszüge aus 153 FORMEN DES NICHTSEINS den Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern. In diesem Jahr nun konnte der Text einen Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises ergattern – eine gerechtfertigte Anerkennung, die die Kunst der vielseitig talentierten Autorin wertschätzt. Man darf gespannt sein, welche Werke diesem außerordentlichen Debüt noch folgen werden.


153 FORMEN DES NICHTSEINS erschien im Homunculus Verlag. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.

Diese Rezension erschien auch in der Zeitschrift LESART Ausgabe 4/2022.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

2 Gedanken zu “Slata Roschal | 153 FORMEN DES NICHTSEINS

    • Danke, Marc! Hab den Roman nicht in einem Rutsch gelesen, sondern in kleinen Häppchen über einen langen Zeitraum. Ich finde, das kann man bei diesem Buch sehr gut machen.

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