E 2021 | 198 Seiten
OT: »Yo no sé de otras cosas«
Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt
Trabanten Verlag
ISBN: 978-3-98697-001-7
Anderes kenne ich nicht, sage ich zu ihm, aber diesen Weg kenne ich, und der führt nur in den Wald.
(Seite 9)
… und einmal, da saß ich auf einem Bahnhof fest, ist noch gar nicht so lange her, ein paar Wochen vielleicht, nicht mehr ganz Sommer, aber auch noch lange nicht Herbst. Das war auf so einem kleinen Bahnhof in der Mecklenburger Pampa, einem von der Sorte, bei dem man froh sein kann, dass es Bänke gibt, falls der Zug mal Verspätung hat. Und die hatte er an jenem Tag, und zwar ordentlich. Über eine Stunde saß ich da auf der Bank und hab gewartet, schön nach Feierabend noch mal unbezahlte Überstunden machen. Naja, eigentlich bin ich nicht so von der Meckerbrigade; ich sage mir immer: »Was auch kommt, wenn Du ein Buch dabei hast, kann es nicht so schlimm werden.« Das Wetter passte, ein Buch hatte ich natürlich parat und für einen Kaffee aus dem Automaten hätte es auch noch gereicht… wenn es denn einen Automaten gegeben hätte, aber was soll’s, man kann nicht alles haben.
Na, jedenfalls hatte ich es mir gerade halbwegs gemütlich gemacht und den ersten Satz meiner Lektüre begonnen, da kam so ein älterer Herr auf den Bahnsteig, schaute sich bedröppelt um und fing an, sich lautstark zu wundern, wo denn nur der Zug bleibt, so seltsam auffällig, damit auch alle mitbekommen, dass er sich wundert. So »Häää?« und »Waaa?« und »Hmmm?« Ich war zu dieser späten Stunde der einzige andere Mensch auf dem Bahnhof, er hätte also gar nicht so ein Theater machen müssen. Normalerweise setze ich in solchen Fällen mein Es-ist-mir-scheißegal-was-dich-gerade-umtreibt-Pokerface auf, mit dem in Berlin immer alle durch die Straßen latschen, aber weil er sich solche Mühe gegebenen hatte, tat ich ihm den Gefallen und rief: »Der Zug hat Verspätung, kann noch ’ne Weile dauern.« Das war ein Fehler! Der Mann hatte mich augenblicklich ins Herz geschlossen, setzte sich neben mich und fing an zu erzählen. Warum er gerade heute die kleine Stadt verlassen wolle, wo er doch sonst nur selten mal verreist, dass es zuhause mit seiner Frau entweder pure Harmonie oder bittersten Streit gäbe, nie irgendwas dazwischen, und zurzeit wäre leider gerade eine Streitphase, deswegen müsse er auch einfach mal raus, mal weg, zu Freunden vielleicht, nur wisse er noch nicht zu welchen Freunden, die wären alle sonstwo verstreut und hätten ihre eigenen Probleme, und seine Kinder seien längst erwachsen und meldeten sich kaum noch… Der Mann redete ununterbrochen und rauchte dabei im Fünf-Minuten-Takt eine Zigarette nach der anderen. Ich hätte ihm gerne gesagt, dass das Rauchen nur in den gekennzeichneten Flächen gestattet sei, aber ich kam nicht zu Wort. Als der Zug endlich einfuhr, quatschte er immer noch, selbst die Maskenpflicht stoppte seinen Redefluss nicht. Wir gingen gemeinsam die paar Schritte zur Bahnsteigkante, der Zug hielt mit einer der vorderen Tür direkt vor unserer Nase. Ich ließ ihm den Vortritt und als er in der Tür verschwunden war, rannte ich zum letzten Waggon, sprang in den Zug und schloss mich in der Bordtoilette ein … Ich weiß, das war nicht nett von mir und ich schäme mich auch irgendwie. Es gibt bestimmt höflichere Lösungen, aber leider tue ich mich sehr schwer damit, Leuten einfach zu sagen, dass sie mich in Ruhe lassen sollen, dass sie die Klappe halten und mich nicht so dermaßen vollsabbeln sollen.
Worauf ich eigentlich hinaus wollte: So wie ich mich auf diesem Bahnsteig gefühlt habe – und Du Dich vielleicht gerade beim Lesen dieses Textes –, so muss sich der namenlose Señor aus Elisa Levis ANDERES KENNE ICH NICHT gefühlt haben, als er auf der Suche nach seinem entlaufenen Hund auf die Ich-Erzählerin Lea trifft. Die steht nämlich auf einer Lichtung mitten Wald und labert dem Señor gehörig ein Schnitzel an die Backe, so richtig mit Panade, Beilagen und ’ner Zitronenscheibe obendrauf. Dass sie aus einem Dorf in der Nähe kommt, wer da noch so alles wohnt, und dass da gerade die hochnäsigen Städter hingezogen sind, die keiner mag, und wie das so mit ihrer Mutter ist und mit ihrer schwerbehinderten Schwester, und wer alles viel zu früh gestorben ist und wer nicht, obwohl es längst Zeit wäre, und welche Feste man da so feiert und dass beim Schönheitswettbewerb immer die Töchter des Bürgermeisters gewinnen. Dabei raucht sie jede Menge Zigaretten und hält den Señor von der Suche nach seinem Hund ab. Warum Lea aber eigentlich so allein da auf der Lichtung steht und den Señor nicht in die Büsche lässt – die einzigen wirklich interessanten Fakten also –, das hebt sie sich für das Finale auf… und bei diesem Finale habe ich echt geschluckt.
Was Elisa Levi richtig gut raus hat, ist der Nonstop-Laber-Modus. Dabei wechselt sie oft zwischen der Ich-Stimme, die uns erzählt, wie sie den Señor trifft, und dem ewigen Monolog, den sie dem Señor aufdrängt. Die Grenzen, die diese beiden Ebenen trennen, verschwimmen in der Flut der Wörter, was wirklich geschickt gemacht ist. Den Gesamttext dann aber in einzelne Kapitel zu unterteilen, empfand ich als unpassend, denn dadurch wird der Sprachwasserfall ständig unterbrochen, als ob Lea den Señor Stunden später oder gar am nächsten Tag erst wiedertrifft und weiternervt.
Bei der Lektüre selbst ging ich durch drei Gefühlswelten: Zuerst war ich hoch amüsiert und hörte Lea gerne dabei zu, was sie alles so von sich gibt. Im zweiten Drittel dann stellte sich eine gewisse Müdigkeit ein, bei der ich dachte: »Wenn da nicht noch ein Paukenschlag kommt, penne ich ein.« Die Story steckte irgendwie fest, kam nicht weiter, drehte sich im Kreis. Dann aber, ziemlich zum Schluss, kam er, der Paukenschlag, und auch wenn Levi ihn schon viele Seiten vorher angekündigt hatte, traf er mich doch unvorbereitet. Ein solches Ende hatte ich nicht erwartet: es ist knallhart, moralisch fragwürdig und bleibt im Gedächtnis. Ein sehr interessanter Roman, der unschuldig daherkommt, um dann alles in die Tiefe zu reißen.
ANDERES KENNE ICH NICHT erschien im noch jungen Trabanten Verlag aus Berlin, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.
Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
[…] deutlich auf deutsch- und englischsprachige Romane beschränkt. Ab und zu mal ein Ausreißer aus Spanien oder Finnland oder Frankreich, ansonsten bleibe ich meinen Jagdgründen recht treu. Umso schöner, […]
LikeLike