D 2009 | 300 Seiten
Carl Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-23391-1
Alles, was ich habe, trage ich bei mir.
Oder: Alles Meinige trage ich mit mir.
Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht. (Seite 7)
INHALT: Der 17-Jährige Leopold wird kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus seinem Heimatdorf im rumänischen Banat nach Russland deportiert, um dort in einem Arbeitslager für den Wiederaufbau Zwangsarbeit zu verrichten. Fünf lange Jahre muss er bleiben, bis seine „Kriegsschuld“ abgetragen ist. Die Lagerzeit bringt ihn an seine körperlichen und seelischen Grenzen und droht ihn völlig zu zerstören. Aber er hat Freunde: Männer und Frauen allen Alters, die sein Schicksal teilen, Deportierte aus allen sozialen Schichten. Jeder versucht auf seine Weise, gegen die Jahre anzukämpfen, die harte Arbeit, die Eintönigkeit, den Hunger durchzustehen. Viele zermürbt es, viele schaffen es nicht, aber es gibt auch Hoffnung.
FORM: In über sechzig zum Teil sehr kurzen Kapiteln beschreibt Herta Müller den Lageralltag in kunstvoll poetischer Sprache. Ihr gewähltes Stilmittel hierbei ist das Untersuchen und Benennen der Dinge: Alles, was das Arbeitslager und das Leiden der Deportierten ausmacht, wird personifiziert, erhält einen Namen und eine Rolle für den weiteren Verlauf der eigentlichen Geschichte. Dadurch entstehen Wortschöpfungen, die perfekt die Umstände erklären, aus denen sie entstanden sind: Hungerengel, Atemschaukel, Wangenbrot, Blechkuss … um nur einige zu nennen. Die Überlegungen, die zu diesen Wörtern führen, sind so einfach wie nachvollziehbar:
Was kann man sagen über den chronischen Hunger. […] Der Gaumen ist größer als der Kopf, eine Kuppel, hoch und hellhörig bis hinauf in den Schädel. Wenn man den Hunger nicht mehr aushält, zieht es im Gaumen, als wäre einem eine frische Hasenhaut zum Trocknen hinters Gesicht gespannt. (Seite 24 f.)
Sätze wie diese sind (neben der Handlung) die eigentliche Großtat, für die man Herta Müller danken muss. Ich habe noch nie einen solchen Hunger verspürt (und werde es hoffentlich auch nie), aber jetzt habe ich eine ungefähre Ahnung, wie es sich anfühlt. Mehr kann man von Literatur nicht verlangen.
FAZIT: Ich muss gestehen: Vor der Verkündung des Literatutnobelpreises hatte ich noch nie etwas von Herta Müller gehört. Gleich nach der Pressemitteilung bin ich in den Buchladen meines Vertrauens gerannt, habe mir ATEMSCHAUKEL gekauft und auch gleich gelesen. Damals war ich zugegebenermaßen reichlich überfordert und stand dem Roman eher kritisch gegenüber. Jetzt, sieben Jahre später und mit dem Wissen, was mich erwartet, muss möchte ich meine Meinung korrigieren und vergebe sehr gern die volle Punktzahl. Ein wichtiges Buch gegen das Vergessen und für die Kraft der Sprache.
Einmal lag unter dem weißen Resopaltischchen eine staubige Rosine. Da hab ich mit ihr getanzt. Dann habe ich sie gegessen. Dann war eine Art Ferne in mir. (Seite 297)
[…] DUNKLE SCHIFF) und Stephan Thome (GRENZGANG). Zwei Titel kannte ich schon (NACH HAUSE SCHWIMMEN und ATEMSCHAUKEL), die Re-Reads waren aber nicht unangenehm, im Falle Lapperts habe ich die erneute Lektüre sogar […]
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ein tolles Buch
https://literaturgefluester.wordpress.com/2009/11/22/atemschaukel/
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