Anne Weber | BANNMEILEN

D 2024 | 302 Seiten | 25 Euro
Matthes & Seitz Verlag Berlin
ISBN: 978-3-7518-0955-9

Thierry ist der einzige Franzose, den ich je im sogenannten Passé simple habe sprechen hören, einer Vergangenheitsform, die im Französischen schon lange nur noch in der Schriftsprache überlebt.

(Seite 5)

Paris – die Stadt der Liebe, hach wie schön! Eiffelturm, Louvre und Moulin Rouge; wenn man an die französische Hauptstadt denkt, ploppen im Kopf als erstes romantische Bilder imposanter Bauwerke auf und die Gedankenwelt wird in sanftes Abendlicht getaucht, durch das verliebte Pärchen Arm in Arm schlendern. Doch Paris besteht nur zu einem kleinen Teil aus den vorzeigbaren Postkartenmotiven im Zentrum. Drumherum liegen die Banlieues, die sozialen Brennpunkte mit ihren riesigen Plattenbauten und Straßen, in denen sich der Müll stapelt und Kriminalität den Alltag bestimmt. Hierhin führt uns Anne Weber in ihrem Parisroman BANNMEILEN, einer Stadtführung der ganz anderen Art.

Eine der Banlieues nördlich der Innenstadt wird nach ihrer mit 93 beginnenden Postleitzahl »Le neuf-trois« genannt. In diesen Vorort verschlägt es die Autorin, in den sie, trotz der Jahrzehnte, die sie bereits in Paris wohnt, noch nie einen Fuß gesetzt hat. Mit ihrem Bekannten Thierry, der die trostlose Gegend ganz gut kennt, macht sie über viele Monate hin lange Streifzüge durch die heruntergekommenen Straßen, lässt sich von ihm erzählen, was die Leute hier bewegt, wie sie ihren tristen Alltag bewältigen und der allgegenwärtigen Perspektivlosigkeit entgegentreten.

Sie kommen mit vielen Menschen ins Gespräch, in kleinen Cafés oder direkt auf den Straßen, und es wird schnell klar, dass sich die Leute hier von der Regierung verlassen fühlen, sich als abgehängt empfinden. Die Gründe dafür liegen oft in der unrühmlichen Kolonialzeit Frankreichs und der mangelhaften Intergrationspolitik, die den zigtausenden Zuwanderern – vielen von ihnen aus Algerien – nur selten Hilfe bietet. Auch Thierry entstammt einer algerischen Familie und er kann viele Schicksale in der Banlieue gut verstehen. Für die in Wohlstand aufgewachsene Anne Weber sind die Geschichten Neuland und hin und wieder schwer nachzuvollziehen. Manchmal gerät sie mit Thierry sogar in Streit, wenn sie etwas ganz und gar nicht glauben kann, dennoch nimmt sie den jungen Mann als ihren persönlichen Vergil an, der sie umsichtig durch das unbekannte Paris führt.


BANNMEILEN – das deutsche Wort für banlieues – ist zum Teil ein Buch über das Flanieren. Solche Bücher gab in der Vergangenheit schon öfter, meistens ging es in diesen aber eher um die Möglichkeit, Ruhe zu finden und die Gedanken zu ordnen, um sie anschließend niederzuschreiben. Anne Weber geht es aber nicht um ihre eigene Geschichte; sie will den Ort, durch den sie geht, tatsächlich für sich ergründen und uns Lesenden daran teilhaben lassen. Es ist auch kein Stadtführer nach dem Motto »100 Dinge, die du in Neuf-Trois erleben kannst«, dazu ist das Viertel viel zu heikel und vor der öffentlichen Wahrnehmung versteckt. Nein, wir lernen diesen tristen Stadtteil zusammen mit der Autorin kennen. Mit jedem Kapitel, mit jedem Streifzug kommt Neuf-Trois mehr aus der Deckung. Es ist ein Verstehen en passant, gemeinsam mit Anne Weber, woraus sich ein ganz hervorragendes Leseerlebnis ergibt.

Manche der Streifzüge – Webers Beschreibungen sind stellenweise sehr exakt – habe ich per Google Maps und Streetview nachverfolgt. Ich kann nicht behaupten, dass ich groß daran interessiert wäre, diese Wege irgendwann einmal nachzugehen, für den Einblick in diese Ecke von Paris bin ich der Autorin aber dennoch sehr dankbar. Ein Roman mit großem Mehrwert.


BANNMEILEN erschien im Matthes & Seitz Verlag Berlin, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick auf das Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.

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