Mithu Sanyal | IDENTITTI

D 2021 | 432 Seiten
Carl Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-26921-7

Der Tag, an dem die Hölle ihre Schlünde öffnete und heulende Furien ausspie,
fing an wie ein ganz normaler Tag, wenn ein normaler Tag mit einer Rakete anfängt.

(Seite 11)

BOOKSTER HRO: [winkt kindisch in die Kamera] Hallo und herzlich Willkommen zur ersten Ausgabe meiner kleinen Sendung »Looks like Books«, schön, dass Ihr eingeschaltet habt! Erste Sendung… pfuuuh… bin natürlich etwas aufgeregt [lächelt nervös und kratzt sich am Hinterkopf], aber mal sehen, was mich so erwartet. Bin auch schon sehr gespannt, wie sich dieses Format in der nächsten Zeit so entwickelt und ob es Fortsetzungen geben wird. Ganz kurz etwas zum Ablauf: Ich spreche mit einem Gast über einen aktuellen Roman und hoffe, dass ich im Dialog etwas mehr über die Geschichte erfahren kann. Mehr ist es nicht, eigentlich ganz einfach.
Und der erste Gast, den ich begrüßen darf, hat eine turbulente Zeit hinter sich. Sie war viele Jahre lang Dozentin für [blättert in den Aufzeichnungen] Postcolonial Studies an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf, bis zu dem Tag, als ein gut gehütetes Geheimnis über sie gelüftet wurde und diese Enthüllung wie ein Lauffeuer durch die Medien ging. Was genau passiert war und wie sie mit dem anschließenden Shitstorm, der über sie hereinbrach, umging, kann sie uns selbst am besten erzählen. Ich begrüße in meiner Sendung: Saraswati. Schön, dass Sie da sind!

SARASWATI: Vielen Dank für die Einladung!

BOOKSTER HRO: Saraswati, wenn Sie erlauben…

SARASWATI: Wollen wir uns nicht duzen?

BOOKSTER HRO: Ja, gern! Ich bin Stefan.

SARASWATI: Saraswati.

BOOKSTER HRO: [lacht] Ich weiß. Aber das ist ja genau genommen Dein Künstlername. Wenn Du nichts dagegen hast, würde ich Dich lieber Sarah Vera…

SARASWATI: Auf keinen Fall! Mein Name ist Saraswati, Sarah Vera gibt es schon lange nicht mehr. Du nennst mich Saraswati.

BOOKSTER HRO: Natürlich. Dann möchte ich aber auch Bookster genannt werden.

SARASWATI: Das ist nicht dasselbe. Dein alberner Bloggername hat nicht mal ansatzweise die Bedeutung für Dich und Dein Leben, wie Saraswati für mich. Du heißt Stefan. Ich nenne Dich Stefan.

BOOKSTER HRO: Holla, das fängt ja gut an. [öffnet den obersten Knopf seines Hemdes] Saraswati, erzähl uns doch bitte ein bisschen von Deiner Geschichte. Ich bin mir sicher, auch wenn der Skandal weltweit für Aufregung gesorgt hat, gibt es den einen oder anderen Zuschauer, der noch nicht davon gehört hat.

SARASWATI: Oder die eine oder andere Zuschauerin. Weißt Du, wenn Du mit mir ein vernünftiges Gespräch führen willst, dann bitte ich darum, dass Du eine gendergerechte Sprache sprichst, die niemanden verletzt oder vernachlässigt.

BOOKSTER HRO: Natürlich…

SARASWATI: Sonst können wir das hier auch gleich abbrechen.

BOOKSTER HRO: Selbstverständlich…

SARASWATI: Du sitzt hier in Deiner hochnäsigen, toxischen cis-Männlichkeit, in Deiner privilegierten Weißheit mit der Du noch nie Probleme hattest, weder bei der Wohnungssuche noch auf dem Arbeitsmarkt. Dir hat im Supermarkt noch nie jemand von hinten in den Nacken gespuckt oder Dich auf der Festwiese im Vorbeigehen mit einer brennenden Zigarette beschnippst.

BOOKSTER HRO: Du lieber Himmel, nein!

SARASWATI: Sei froh! Sei dankbar! Solche Dinge passieren uns jeden Tag. Mein Anliegen ist es, Euch Weiße darauf aufmerksam zu machen, dass Rassismus in diesem Land ein großes Problem für uns People of Colour ist. Und damit meine ich nicht die grölenden Neonazis vor den brennenden Asylheimen, die es sowieso in die Nachrichten schaffen, sondern den stillen und heimlichen Alltagsrassismus, der überall und jederzeit passiert. Er ist in Euren Köpfen fest verankert, er ist in Eurer DNS. Es gibt ihn, auch wenn Ihr sagt, Ihr habt ihn überwunden. Das fängt schon bei Kleinigkeiten an: Ihr regt Euch tierisch auf, wenn jemand behauptet, Ihr kämt aus Düsseldorf, obwohl ihr aus Köln seid, denkt aber fünf Minuten später, Usbekistan und Kasachstan? Das ist doch alles dasselbe. Rassismus fängt im Kleinen an und am Ende wird immer jemand beleidigt, benachteiligt oder verletzt. Im schlimmsten Fall getötet.

BOOKSTER HRO: Ja, das ist… aber nochmal zurück zu Deiner Geschichte. Du redest von Dir als einer Person of Colour. Du redest von Rassismus, der von den Weißen – und nur von den Weißen – ausgeht, und dass sich Weiße niemals irgendeiner Form von Rassismus aussetzen müssen, weil Rassismus eine Erfindung der Weißen ist. Weiße – wir Weißen – werden niemals ernsthaft über Rassismus sprechen können, weil wir niemals Rassismus erleben werden.

SARASWATI: Exakt.

BOOKSTER HRO: Aber Du sprichst doch darüber. Du hast dieses Thema als Fachgebiet sogar jahrelang an der Uni gelehrt. Nach Deiner Theorie dürftest Du doch gar nicht darüber…

SARASWATI: Doch, natürlich darf ich. Ich bin eine Person of Colour. Sieh doch nur meine Hautfarbe, meine Haare, meine Augen. Ich bin Inderin. Ich gehöre zu einer Minderheit in diesem Land, erfahre seit Jahren Rassismus und bin somit befugt, über Rassismus zu reden und zu dozieren.

BOOKSTER HRO: Ja, aber Du hast Deine Hautfarbe erst im Nachhinein und durch eine Operation geändert. Du bist als weißes, deutsches Mädchen aufgewachsen, mit roten Bäckchen und blonden Zöpfchen, gut behütet im Schutz einer wohlhabenden Arztfamilie und mit allen Privilegien, die man haben kann. Und erst als Du erwachsen warst, stark und klug und selbstbewusst genug, um Dich allen Problemen zu stellen, hast Du Dich entschieden, Deine race zu ändern.

SARASWATI: Tja, das ist genau das, was man mir vorgeworfen hat.

BOOKSTER HRO: Noch dazu ausgerechnet in eine Inderin, das ist ja quasi so eine Art foreigner deluxe. Alle lieben Indien! Die Menschen dort sind freundlich und lebensfroh, machen alle Yoga, haben bunte Kleider an und gehen auf große Volksfeste, wo sie sich mit Lebensmittelfarben beschmeißen.

SARASWATI: Wow! Alles, was Du eben gesagt hast, war rassistisch.

BOOKSTER HRO: Ich kann mir vorstellen, dass sich viele Deiner Studenten [böser Blick von Saraswati], ähm, und Studentinnen verletzt gefühlt haben, als die Bombe platzte. Immerhin hast Du Ihnen jahrelang beigebracht, was Rassismus ist, und dann kommt raus, dass Du ebenso lang und noch viel länger blackfacing betreibst, das größte no-go, das man machen kann.

SARASWATI: Ja, die Welle der Empörung war groß, nicht nur hier in Deutschland, auch in Großbritannien und den USA. Aber die Menschen haben einfach nicht verstanden, worauf ich hinaus wollte.

BOOKSTER HRO: Nun hat eine Autorin einen Roman über Deine Geschichte geschrieben. Lass uns über Mithu Sanyal sprechen.

SARASWATI: Wenn’s sein muss…

BOOKSTER HRO: Nanu, das klingt ja nicht so euphorisch.

SARASWATI: Ich komme in dem Buch nicht gerade sympathisch rüber.

BOOKSTER HRO: Naja… jetzt, wie ich Dich hier so erlebe, kann ich bestätigen, dass Du… naja… sehr dominant und selbstgerecht wirkst.

SARASWATI: Du meinst, wie ein weißer cis-Mann?

BOOKSTER HRO: [verdreht die Augen] Du drehst einem die Worte im Mund um. Du lässt nur Deine eigenen Ansichten gelten. Du bist aggressiv gegen Weiße. Du hast damals an der Uni sogar alle weißen Studenten aus Deinen Seminaren geschmissen.

SARASWATI: Und das findest Du falsch? Das findest Du unsympathisch? Weißt Du, was wir People of Colour durch den weißen Mann alles erdulden mussten?

BOOKSTER HRO: Ich stelle hier die Fragen!

SARASWATI: Ach ja? Du hast noch nicht eine einzige Frage gestellt. Immer nur Aussagen und Aufforderungen, was typisch für einen weißen cis-Mann ist.

BOOKSTER HRO: Ich habe noch keine Frage gestellt?

SARASWATI: Das eben war Deine erste Frage. Scroll ruhig mal nach oben, dann wirst Du sehen, dass Du nie Fragen stellst, sondern immer nur Ansagen machst.

BOOKSTER HRO: Ich soll was? Nach oben scrollen? Was sollen denn jetzt diese Meta-Spielchen? Wir sitzen hier bei einem Interview vor der Kamera, wie soll ich denn nach oben…

SARASWATI: Glaubst Du nicht, Deine [macht Gänsefüßchen in die Luft] „Zuschauer“ haben Dich längst durchschaut? Ich bin eine Romanfigur. Mithu Sanyal hat mich erschaffen und Du hast mich für Deinen armseligen Blog ausgeliehen und weiterverwendet… was Dir übrigens nur sehr schlecht gelingt. Du sitzt gerade vor einer Textdatei und saugst Dir dieses [wieder die Gänsefüßchen] „Interview“ aus den Fingern. Also, wenn ich bitten darf, scrollst Du jetzt nach oben und siehst nach, ob Du mir schon eine relevante Frage gestellt hast!

BOOKSTER HRO: [scrollt rauf und wieder runter] Tatsache… Nun ja… [überlegt] Wie stehst Du zu der Entscheidung, dass Mithu Sanyal den Roman nicht aus Deiner Sicht, sondern aus der Sicht einer Deiner Studentinnen geschrieben hat?

SARASWATI: Autsch!

BOOKSTER HRO: Du bist sozusagen nicht die Hauptfigur, sondern nur die Neben…

SARASWATI: [wütend] Natürlich bin ich die Hauptfigur! Den Roman aus Niveditas [Anm. d. Red.: Name der Hauptfigur] Sicht zu schreiben, das hat sie doch nur gemacht, um meine Beweggründe nach und nach offenzulegen, damit die Leser*innen mein Lebenswerk in all seiner Pracht und Schönheit erfahren können. Sonst hätte sie ja gleich ein Sachbuch über meine Thesen schreiben können, das sowieso niemand liest.

BOOKSTER HRO: Dir ist die Anerkennung und der Erfolg also wichtig?

SARASWATI: Wem bitte schön ist Erfolg denn nicht wichtig? Wir wollen doch alle Erfolg haben mit dem, was wir machen, sonst können wir es ja gleich bleiben lassen. Du sitzt doch auch schon seit Tagen hier, schreibst an diesem Text und hältst mich damit gefangen, und alles für den Erfolg. Dabei willst Du gar keine richtige Rezension schreiben, sondern die Leute verblüffen und an der Nase herumführen wie einen Bären im Zirkus. Budenzauber mit billigen Tricks. Erdachte Interviews mit fiktiven Figuren? Was für ein Scheiß! Dabei erhoffst Du Dir doch nur mehr Leser*innen, mehr Likes, mehr Klicks, mehr Follower*innen. Das ist so öde und schnöde, das ist so billig und armselig…

BOOKSTER HRO: Ich glaube, mir entgleitet das alles ein bisschen. Ich würde vorschlagen, dass wir das Interview an dieser Stelle…

SARASWATI: [kreischt] JA! WÜRG MICH RUHIG AB! FLIEHE VOR DEM, FÜR DAS DU ZU SCHWACH BIST! DU HAST NICHT DIE KRAFT, UM GEGEN MICH ZU BESTEHEN! AAAAAH! [verwandelt sich in eine blaue Staubwolke und löst sich in Luft auf]

BOOKSTER HRO: [ringt um Fassung] Nun… also… [lächelt nervös] das war sie dann wohl, die erste Folge meiner kleinen Sendung »Looks like Books«. Nächstes Mal zu Gast: Moby Dick [lacht unecht]… kleiner Scherz! Ich möchte noch ergänzen, dass mir das Buch IDENTITTI von Mithu Sanyal sehr gut gefallen hat. Es ist klug, es ist witzig, es ist relevant, es ist am Puls der Zeit. Ein ganz heißer Anwärter auf den Deutschen Buchpreis 2021. Unbedingt lesen!


IDENTITTI erschien beim Carl Hanser Verlag. Mit einem Klick auf Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

22 Gedanken zu “Mithu Sanyal | IDENTITTI

  1. Wenn ich das hier so sehe: Mehr Likes, mehr Kommentare… die obige Aussage stimmt irgendwie 😉
    Auf jeden Fall habe ich mich gerade sehr nett amüsiert!
    Herzliche Grüße in den Norden!

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  2. Herrlich!!! Eigentlich müsste ich jetzt noch gendergerecht „Dämlich!!!“ ergänzen – aber das wäre für deinen witzig treffenden Beitrag sinnentstellend.
    Mehr (Gänsefüßchen) Sendungen (Gänsefüßchen) bitte!
    Marion

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