Saša Stanišić | MÖCHTE DIE WITWE ANGESPROCHEN WERDEN, PLATZIERT SIE AUF DEM GRAB DIE GIESSKANNE MIT DEM AUSGUSS NACH VORNE

D 2024 | 256 Seiten | 24 Euro
Luchterhand Verlag
ISBN: 978-3-630-87768-6

An einem heißen Weinbergnachmittag im Juni 1994 warf Fatih einen Stein in die Luft, und wir anderen versuchten, seinen Stein mit unseren Steinen zu treffen, und Fatih sagte, »Wartet mal kurz«, und die Steine prasselten zu Boden.

(Seite 7)

Seit Jahren schon bin ich ein großer Stanišić-Fanboy: Ich feiere seine Romane hart, habe sie schon dutzende Male empfohlen, verliehen und verschenkt, nerve ungefragt alle um mich herum, was dieser Mann bloß für ein Genie ist, und bin mir sicher, wäre ich noch Teenie, hätte ich ein Poster von ihm an der Wand. Nun ist nach fünf Jahren – und ein paar Ausflügen in die Kinderliteratur – endlich wieder etwas Belletristisches von Saša Stanišić erschienen, dementsprechend hoch waren bei mir Vorfreude und Erwartung…

Zwölf Kurzgeschichten sind es, die uns der Autor kredenzt, und das Erste, das – nach dem sperrigen Titel – auffällt, ist die Bitte: »Der Reihe nach lesen«. Na, der traut sich ja was! Also fangen wir brav vorne an und lernen Fatih, Piero, Nico und Saša kennen, vier Jugendliche, die in den Heidelberger Weinbergen gelangweilt Steine in die Luft werfen. Sie alle kommen aus Migrationsfamilien und sind sich der Tatsache bewusst, dass ihre Leben wahrscheinlich um einiges schwieriger sein werden als die der anderen Kids. Da hat Fatih die grandiose Idee für einen Proberaum für das Leben: Für 130 Mark darfst du für zehn Minuten in eine mögliche Zukunft lunsen. Gefällt dir, was du siehst, kannst du’s einloggen und das passiert dann auch irgendwann mal – das kostet dich dann aber 130.000 Mark.

Die folgenden Geschichten sind ab da an so etwas wie mögliche Zukünfte verschiedener Figuren, Versionen von Schicksalen, die vielleicht noch sein mögen, vielleicht aber auch nicht. Mit diesem einleitenden Gedankenkonstrukt baut sich Stanišić einen eigenen Spielplatz, auf dem er stilistisch und narrativ alles hemmungslos ausprobieren darf, was ihm gerade unter die Tastatur kommt. Georg Horváth bricht in seiner Vaterschaftszeit Pokémon Go-Rekorde, verliert aber gegen seinen kleinen Sohn beim Memory; Dilek ist mal Mutter in Heidelberg, mal Putzfrau in Wien; Witwe Gisel erzählt ihrem Mann im Grab von der Welt um sie herum; ein Parallel-Universum-Saša Stanišić wird auf Helgoland eines schwerwiegenden Diebstahls bezichtigt; ein anderer liest auf einem Hochsitz Weltliteratur; Miroslav Klose und Heinrich Heine haben Cameos… Und alles ist komplex miteinander verlinkt, verknotet und verbunden.


Um es einmal festzuhalten: MÖCHTE DIE WITWE ANGESPROCHEN WERDEN, PLATZIERT SIE AUF DEM GRAB DIE GIESSKANNE MIT DEM AUSGUSS NACH VORNE ist ein großer literarischer Spaß mit jeder Menge Tricks der hinterlistigen Art. Irgendwann habe ich aufgehört, mir die Querverweise, Meta-Gags und Spielereien zu markieren, es nahm einfach kein Ende. Und eigentlich liebe ich solche kunstvoll verschnörkelten Texte auch (der Saša auf Helgoland zum Beispiel ist sich seinem Figurendasein vollkommen bewusst, denn als er sich in einem Gasthof endlich mal umschaut, weiß er, dass schon elf Seiten vergangen sind – ich schmeiß mich weg bei sowas!), aber diesmal ist der Funken nicht oder irgendwie nur ab und zu übergesprungen.

Es ist nämlich so, dass ich Stanišić nicht nur wegen seiner verspielten Art zu schreiben so schätze, sondern vor allem auch wegen der Ernsthaftigkeit, die er versiert unter seine Funken sprühende Prosa legt; das hat mir diesmal gefehlt. Sicherlich haben ein paar der Figuren seelisch schwer zu schleppen und hier und da sind wirklich schlaue Sätze über unsere in vielerlei Hinsicht defekte Gesellschaft zu finden. Aber durch die »Große Zaubershow der stilistischen Tricks«, die Stanišić diesmal mit lautem Tschingderassabum abliefert, lenkt er den Blick zu sehr vom Detail weg. Und wenn sich der ganze Bühnennebel dann verzogen hat, ist kaum noch was Brauchbares in Erinnerung geblieben. Zu viel Spielerei, zu wenig Tiefgang – leider. Ich halte Saša Stanišić nach wie vor für einen brillanten Schriftsteller, glaube aber, bei meinem Fanboy-Poster hat sich gerade ein Klebeband gelöst…


MÖCHTE DIE WITWE ANGESPROCHEN WERDEN… erschien im Luchterhand Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick auf das Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.

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