Will Self | LEBERKNÖDEL

GB 2008 | 205 Seiten
OT: »Leberknödel« aus dem Band
»Liver: A Fictional Organ with a Surface Anatomy of Four Lobes«
Hoffmann und Campe
ISBN: 978-3-455-40464-7

Joyce Beddoes – ihre Freunde nannten sie Jo, ihr verstorbener Mann hatte sie in offenherziger Vertrautheit gelegentlich Jo-Jo genannt, genauso wie in Kindertagen ihre Tochter Isobel – war drauf und dran, den Kopf zwischen die Knie zu stecken. (Seite 7)

INHALT: Die siebzigjährige Engländerin Joyce fliegt nach Zürich, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie hat Leberkrebs, starke Schmerzen, ihr Körper ist am Ende und solange sie noch klar bei Verstand ist, wählt sie den bewussten Freitod durch Sterbehilfe in einem Hospiz. Doch als Dr. Hohl ihr das Glas mit dem letalen Cocktail überreicht, wird sie von einer Flut von Erinnerungen überwältigt. Sie lehnt das Gift ab und verlässt das Hospiz.

Am nächsten Morgen schon geht es ihr besser. Sie nutzt die neu gewonnene Kraft und zieht in immer größeren Kreisen durch die Stadt. Aus Tagen werden Wochen und ihr Leiden ist wie verflogen. Als sie mit den Gemeindemitgliedern Ulrich Weiss und seiner Partnerin Marianne Kreutzer Bekanntschaft macht, wird die katholische Kirche auf ihren Fall aufmerksam und wittert ein Wunder. Der päpstliche Ehrenkaplan Reiter wird auf sie angesetzt, um weitere Untersuchungen mit ihr durchzuführen und genügend Beweise für eine eventuelle Seligsprechung zu sammeln. Doch davon will Joyce nichts wissen; sie will ihr geschenktes Leben in allen Zügen genießen.

Als Reiter ihre Werte sah, erlaubte er sich einen seltenen Scherz: »Ist die Leber nicht der Heiland des Körpers? Schließlich ist sie das einzige Organ, das in der Lage ist, sich selbst zu regenerieren – es wird quasi neu geboren. Ihre Leber, Joyce, ist, sagen wir, von den Toten auferstanden« (Seite 142)

FORM: Will Self schreibt gekonnt verschlungene Sätze voller Informationen und Einschübe, selbst Joyce‘ eigene Gedanken sind kursiv in den erzählenden Text eingeflochten. Diesen Stil hält Self bis zum Schluss aufrecht, und gepaart mit seiner Metaphorik, bei der jedes Bild sitzt, und seinem feinen, ganz leisen Humor, ist dieser schmale Roman ein kleines Meisterstück geworden. (Vergleiche sind auf eine Art immer unpassend, aber irgendwie hat mich diese Prosa an die Harry Mulischs erinnert.) Die sieben Kapitel folgen den sieben Sätzen aus Mozarts Reqiuem in d-Moll, dessen Verse immer wieder auftauchen und die Handlung bestimmen.

Was ich an diesem Roman sehr schätze, ist, dass Self auf eine moralische Bewertung verzichtet. Es geht ihm nicht darum, das Thema Sterbehilfe auf den Prüfstand zu heben oder die Ansichten der katholischen Kirche in Frage zu stellen (obwohl deutlich wird, auf welcher Seite er steht). Self will einfach eine gute Geschichte mit allen Facetten erzählen, und das gelingt ihm einfach wunderbar.

Joyce hatte das Alter und ihre Krankheit als Normalität empfunden, die sich eingeschlichen hatten wie eine schlechte Angewohnheit. Man schluckte seine Pillen und ging zur Therapie, weil man es so machte. Und wenn man vielleicht auch mit der Idee spielte, dem Ganzen ein Ende zu setzen, wenn es zu schlimm würde, musste man doch feststellen, dass der Tag, an dem es schlimm genug war, niemals kam, denn viel besser war es in den Tagen zuvor ja auch nicht gewesen. (Seite 200 f.)

Ein großes Lob auch an den Verlag Hoffmann und Campe und an das Favoritbuero München für das Layout: Der gold-bronzene Einband ist ein echter Hingucker.

FAZIT: Das war mein erster Roman von Will Self, mit Sicherheit aber nicht der letzte. Nach allem was ich so von ihm in Erfahrung bringen konnte, handelt es sich um einen höchst interessanten Autor, dem ich mit Freude folgen werde und guten Gewissens weiterempfehlen kann – fünf Sterne.

3 Gedanken zu “Will Self | LEBERKNÖDEL

  1. Erzählt Self hier stringent, oder ist es wieder das absurde Chaos, mit dem ich schon bei seinem Roman „Spaß“ derart problem bekam, dass ich abbrach? Deine Rezension lockt nämlich (leider) wieder 😉

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    • LEBERKNÖDEL ist eine rundum gut erzählte Geschichte mit Tiefgang. Ich habe mal testweise in Selfs REGENSCHIRM reingelesen, ein 500-seitiger Bewusstseinsstrom, und ich vermute, SPASS ist ähnlich experimentell … aber das hier ist etwas völlig anderes, Du kannst ohne Bedenken zugreifen.

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