Tanya Tagaq | EISFUCHS

CDN 2018 | 200 Seiten
OT: »Split Tooth«
Aus dem Englischen von Caroline Burger

Verlag Antje Kunstmann
ISBN: 978-3-95614-353-3

Manchmal, wenn die Betrunkenen aus der Kneipe nach Hause kamen, versteckten wir uns im Schrank. (Seite 11)

Meistens bin ich mit Büchern nach der Lektüre im Reinen. Sie gefallen mir oder auch nicht oder nur so lala, im Normalfall kann ich das jedenfalls einigermaßen begründen. Aber manchmal – eigentlich sehr selten – lehne ich mich nach dem letzten Satz eines Buches zurück und frage mich: »Was zum Geier war das denn, bitteschön?« EISFUCHS, der Debütroman der kanadischen Musikerin Tanya Tagaq, ist ein solcher Fall.

Erzählt wird die Geschichte eines namenlosen Mädchens, das in der kanadischen Arktis aufwächst, hoch oben im Norden, im ewigen Wechsel zwischen Mitternachtssonne und Polarnacht. Es sind die Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts – eine trostlose Zeit, in der die Erwachsenen im Alkohol und die Jugendlichen im Drogenrausch Zuflucht suchen; Gesetz und Moral scheinen verloren. Die Gesellschaft wird von einer rigiden Hackordnung bestimmt, die Starken regieren über die Schwachen; wer sich nicht wehren kann, geht unter. So etwas wie Zuneigung gibt es nur innerhalb der eigenen Familie, und auch dort nur bedingt.

Immer wieder kommt es zu sexuellen Übergriffen. Auch die Ich-Erzählerin wird mehrfach Opfer von Vergewaltigungen, bis sie schließlich ungewollt schwanger wird. Spätestens hier ist für das Mädchen der Punkt erreicht, an dem das normale Verständnis für die Welt nicht mehr ausreicht – sie flüchtet in die Mythen der Inuit, in denen die Natur von Anbeginn der Zeit von alten Geistern bewohnt ist. Der schlaue, starke und stolze Eisfuchs wird ihr Seelentier, sie wird von den Polarlichtern geschwängert und gebährt Zwillinge, die Sonne und den Mond, die ihr die größten Opfer abverlangen.


Tanya Tagaq (*1975) erzählt ihre – hoffentlich nicht allzu biografische – Geschichte auf drei Arten. Zunächst einmal sind da die Kindheitserinnerungen, die sehr realistisch geschrieben sind. Hier wird abgedeckt, was man aus amerikanischen High-School-Filmen so kennt: Verliebtsein, Streiche spielen, Machtkämpfe, Drogen, und eben auch besagte Übergriffe. Diese Schilderungen werden nach und nach von der symbolreichen Traumwelt abgelöst, deren Duktus sehr viel reifer, intimer, aber auch vulgärer ist. Durchbrochen wird der Text immer wieder von Gedichten, in denen angedeutet wird, was in den Kapiteln ungesagt – oder unsagbar – blieb.

Keine Frage: EISFUCHS ist ein intensives Buch, das einem an manchen Stellen die Kehle zudrückt; besonders im letzten Drittel schmerzt jeder zweite Satz wie ein Leberhaken. Tanya Tagaq ist eine sprachmächtige Schriftstellerin, die die Worte einsetzen kann, ohne je ihr Ziel zu verfehlen. Ob sie es mit dieser episch erhebenden und dennoch harten Sprache schafft, alle Leser:innen gleichermaßen abzuholen, bezweifle ich stark, aber vielleicht will das Buch in erster Linie gar nicht gefallen. EISFUCHS ist ein kaltes Kunstwerk, geboren aus Schnee und Blut und Nacht – wer es liest, verlässt die Komfortzone; wer es verpasst, bringt sich um ein Erlebnis.


9783956143533EISFUCHS ist in einer wunderschönen Ausgabe – illustriert und mit rotem Farbschnitt – beim Verlag Antje Kunstmann erschienen, dem ich herzlich für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt Ihr zur Verlagseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

3 Gedanken zu “Tanya Tagaq | EISFUCHS

  1. Das klingt doll. Aber auch doll GUT! Besonders mit dem: »Was zum Geier war das denn, bitteschön?« Sowas finde ich bei Büchern und Filmen prinzipiell immer ansprechend! 😉

    Danke für auch diesen Tipp! Bleib auch du gesund! VVN

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