Karen Köhler | MIROLOI

D 2019 | 464 Seiten
Hanser
ISBN: 978-3-446-26171-6

Eselshure. Schlitzi. Nachgeburt der Hölle. Ich war schon von Anfang so hässlich, dass meine eigene Mutter mich lieber hier abgelegt hat, statt mich zu behalten. (Seite 9)

Es gibt Bücher, bei denen es ratsam ist, mit der Lektüre zu warten, bis der erste Sturm an Besprechungen vorbei ist, die Wogen sich geglättet haben und man sich wieder halbwegs unvoreingenommen dem Text an sich widmen kann – MIROLOI ist ein solches Buch. Karen Köhler musste nach der Veröffentlichung ihres Debütromans ordentlich einstecken, denn es wurde von vielen Seiten auf sie eingedroschen. Den ersten Stein warf Jan Drees mit seinem Verriss, der zwar einige interessante Punkte zu bedenken gab – und gleichzeitig eine Grundsatzdebatte über Verlagspolitik und Literaturkritik entfachte –, sich in meinen Augen aber doch unfair verhielt, da er seinen Beitrag bereits vor Veröffentlichung von MIROLOI äußerst publikumswirksam ins Netz stellte. In der Folge stürzte sich das halbe Feuilleton auf die Autorin und kaum ein Leser konnte noch unbedarft an den Text herantreten – Köhler hatte nicht den Hauch einer Chance. Nun sind ein paar Monate ins Land gegangen, die Meute ist weitergezogen, auf der Suche nach der nächsten Sau, die sie durchs Dorf jagen kann, für mich also Abstand genug, mich dem Roman zu widmen. Und siehe da: So wild ist das alles gar nicht.


Ein Miroloi ist das Totenlied, das die Gemeinschaft des Schönen Dorfes auf der Schönen Insel – dem Handlungsort des Romans – ihren Verstorbenen bei der Bestattung singt. Es ist die letzte Ehre, die ein Mensch bekommt, aber nur, wenn er auch dort geboren wurde, eine Voraussetzung, die die Ich-Erzählerin leider nicht hat. Die Sechzehnjährige, die als Säugling von ihrer ortsfremden Mutter auf die Stufen des Bethauses gelegt und verlassen wurde, gilt im Dorf als Fremdkörper, als Unheilsbringerin und Sündenbock. Sie wird verspottet und erniedrigt, im besten Fall noch ignoriert. Auch die wenigen Vertrauten, die sie hat, können ihr nur eingeschränkt zur Seite stehen, denn es gelten harte Gesetze bei noch härteren Strafen, die besonders die Frauen des Dorfes betreffen. Es herrscht auf der Insel seit Generationen ein knallhartes Patriarchat, das den Frauen jegliche Art der Bildung und Selbstverwirklichung untersagt. Sie haben nur dem Mann zu dienen, auf den Feldern zu arbeiten und sich um Haus und Familie zu kümmern; nur Töchter zu zeugen, gilt dem Mann als Schande. Jeglicher Verstoß gegen die Gesetze wird mit dem Pfahl bestraft, an dem der – meist aber die – Beschuldigte je nach Verbrechen hungern muss, verstümmelt oder sogar gesteinigt wird.

Das einzige Glück, das unsere Heldin hat, ist, dass der Bethausvater, der sie seit Jahren bei sich aufzieht und als religiöser Vorstand Macht und Einfluss im Dorf besitzt, es nicht so genau nimmt mit den Gesetzen. Ganz im Gegenteil: Er bringt ihr Lesen und Schreiben bei, sorgt für eine solide Grundbildung und fördert ihr Selbstvertrauen und ihre Stärke, auf dass sie all den Widrigkeiten des Lebens auf der Schönen Insel trotzen kann. Doch muss sie vorsichtig sein mit ihrem Wissen, denn wenn die falschen Leute herausfinden, was sie kann, ist sie geliefert.


Karen Köhler (*1974) macht in MIROLOI thematisch ein Fass nach dem anderen auf: Geschlechterkampf, Unterdrückung, religiöser Fundamentalismus, Fremdenhass, Isolation, Machtmissbrauch, aber auch Freundschaft, Aufbegehren, Revolution und der Kampf für das Gerechte gehören dazu – das ist eine Menge Stoff für ein Buch. Fast zu viel, möchte ich meinen, doch Köhler gelingt es erstaunlich elegant, in vielen kleinen Episoden alles unterzubringen, ohne dass ich das Gefühl hatte, von irgendetwas zu viel oder zu wenig zu bekommen. Mit perfektem Timing hält die Autorin uns Leser und Leserinnen am Ball; sie hat ein unglaubliches Gespür dafür, wann ihre Figuren eine Entwicklung machen, ein Geheimnis preisgeben oder einen Entschluss fassen müssen, damit die Geschichte am Leben bleibt. Auch stilistisch hat der Roman einiges zu bieten, angefangen von der kindlich-naiven – und der Figur somit entsprechenden – Sprache, in der in all ihrer Einfachheit sehr viel Kraft und Sehnsucht stecken, bis hin zu kleinen rhetorischen Spielereien, die den Text immer wieder auflockern.

Hinzu kommt Köhlers breit gefächerte Kreativität. Das ist ein Punkt, der selten hervorgehoben wird, weil er meist nicht deutlich genug hervorsticht und unter der thematischen Schicht verborgen bleibt. Bei Fantasy- und Science Fiction-Romanen liegt es auf der Hand, dass die Autorinnen und Autoren über kreative Fähigkeiten verfügen; es wird sogar von ihnen verlangt. Wenn die feuerspeienden Geschöpfe besonders bunt und die fernen Planeten besonders artenreich bevölkert sind, wird die Kreativität lautstark gefeiert. Also möchte ich hier auch Köhlers Fähigkeiten hervorheben: Das Schöne Dorf, die Dorfgemeinschaft, die dort herrschende Religion, die heilige Schrift, die Riten, das soziale, politische und religiöse Gefüge – alles entspringt Köhlers Fantasie, und ihr Talent bringt es zu Papier.

Natürlich ist das alles nicht gänzlich neu; Köhler bedient sich – ob bewusst oder unbewusst kann ich nicht beurteilen – an einer ganzen Masse an Vorbildern. Ich hatte zum Beispiel die ganze Zeit Shyamalans Film THE VILLAGE vor Augen, deren Atmosphäre ganz gut zum Buch passt. (Das ging mir in diesem Jahr schonmal so mit Helene Bukowskis MILCHZÄHNE.) Und auch die in dem Dorf praktizierte Religion ist ein Mix aus den Weltreligionen. (Das Heilige Buch heißt dort Khorabel – das sagt doch schon alles.) Dennoch halte ich es für eine große Leistung, das Grundgerüst so zu erschaffen, dass die Geschichte bequem darin Platz findet. Das sollte gelobt und nicht bemängelt werden.

Was ich eingangs schon ansprach: Wenn man sich MIROLOI unbefangen und frei von allen Debatten nähert, kann man eine wunderbare Geschichte über den Drang nach Freiheit und Gerechtigkeit entdecken, über Freundschaft, Liebe und Zusammenhalt –
Was bitteschön will man denn mehr?


978-3-446-26171-6MIROLOI erschien im Hanser Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Alle Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet Ihr hier. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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