Raphaela Edelbauer | DAS FLÜSSIGE LAND

A 2019 | 350 Seiten
Klett-Cotta
ISBN: 978-3-608-96436-3

In den frühen Morgenstunden des 21. September 2007 verschüttete ich rund 200 ml Kaffee über meinem penetrant klingelnden Handy, das mich, von einer unterdrückten Nummer zutiefst erschüttert, so plötzlich zum Abheben aufforderte, dass ich keine Zeit hatte, die Tasse abzustellen. (Seite 5)

Ruth arbeitet als Physikerin in Wien, als sie von dem plötzlichen Unfalltod ihrer Eltern erfährt. Deren letzter Wille war es, in ihrem Heimatstädtchen Groß-Einland bestattet zu werden. Doch für Ruth ist es gar nicht so leicht, diesen Ort zu finden. Sie hat noch nie von Groß-Einland gehört, er ist auf keiner Karte verzeichnet und weder die Behörden noch die Ortskundigen können ihr weiterhelfen. Nur durch puren Zufall gelangt sie über unwegsames Gelände durch einen dichten Wald doch noch in die versteckte Stadt.

Dort angekommen, merkt Ruth schnell, dass mit Groß-Einland etwas nicht stimmt. Die Menschen sind seltsam, sie wirken aufgesetzt überglücklich und wie ferngesteuert; regiert wird das Dorf von einer herrischen Gräfin, die von ihrem pompösen Schloss auf die Menschen herunterblickt; die Zeit scheint hier anders zu verlaufen; und – das bei weitem auffälligste Merkmal – das Dorf hängt in der Mitte durch.

Groß Einland liegt auf einem riesigen Loch, das hunderte Meter tief in die Erde reicht, und mit jeder Stunde sinken der Marktplatz und die angrenzenden Häuser tiefer in den Schacht. Die Gräfin findet schnell Kontakt zu Ruth und engagiert sie als Gemeinderetterin. Sie soll ein Baustoff entwickeln, mit dem das Loch zuverlässig versiegelt, und die Stadt wieder aufgerichtet werden kann. Im Gegenzug darf Ruth in den Ortschroniken nach der Geschichte ihrer Familie suchen, über die sie so wenig weiß. Doch was sie dort nach und nach ans Tageslicht bringt – nicht nur über ihre Vorfahren, sondern auch über Groß-Einland selbst –, verschlägt ihr den Atem.


Raphaela Edelbauer (*1990 in Wien) bewegt sich in DAS FLÜSSIGE LAND irgendwo zwischen Mystery und Kriminalgeschichte. Dafür erreichte sie aus dem Stand die Shortlists sowohl des Österreichischen, als auch des Deutschen Buchpreises. Ein großer Erfolg also, den ich ihr in jedem Fall gönne. An die doch recht zähe, akademische Sprache musste ich mich zwar erst gewöhnen, aber sie passt perfekt zur Ich-Erzählerin Ruth, die als Vollblutwissenschaftlerin akkurat, diszipliniert und ein wenig weltfremd ist. Im Laufe des Romans wird Ruth mit vielen Dingen konfrontiert, die ihr unerklärbar bleiben, und sie an sich zweifeln lassen. Das schlägt sich auch auf die Sprache nieder, die parallel zu ihrer Entwicklung lockerer – weil zynischer – wird.

Propagiert wird der Roman als »Parabel auf Österreich und den Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit« (Florian Baranyi, ORF, 25.08.2019). Ich aber denke, dass die Geschichte um Groß-Einland mehrere Interpretationen zulässt. Sie kann beispielsweise auch als Metapher für die unterdrückten Schuldgefühle einer stolzen Person stehen, oder als Heilungsprozess eines Kranken, mit Ruth als Medikament. DAS FLÜSSIGE LAND ist dermaßen vielschichtig und bedeutungsschwanger, dass es eine Freude ist, sich beim Lesen darüber den Kopf zu zerbrechen.

Also ich muss schon sagen: Ich habe in den letzten Jahren schon so einige Debütromane unter die Brille bekommen, aber dieser hier toppt alles bisher Gelesene um Längen. Raphaela Edelbauer zeigt in DAS FLÜSSIGE LAND eindrucksvoll, wozu Literatur imstande sein kann. Alles, was ich von einem gelungenen Roman erwarte, ist reichlich vorhanden: Ein Stil, der zu den Figuren passt; ein anspruchsvoller Plot, der mehr verbirgt als bloße Unterhaltung, sich aber dennoch nicht zu ernst nimmt; und ein guter Schuss Humor. Dieses Buch ist fesselnd, verwirrend und phantastisch – eine Mixtur, wie man sie selten in die Hände bekommt.

Wenn Ihr in diesem Herbst nur ein Buch lesen dürftet, nehmt dieses!


9783608964363.jpg.40676.jpgDAS FLÜSSIGE LAND erschien beim Verlag Klett-Cotta, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Alle Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet Ihr hier. Im Zuge des Projektes #buchpreisbloggen durfte Sandro Abbate den Roman auf seinem Blog Novelero besprechen. Eine weitere Rezension findet Ihr bei letteratura.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

9 Gedanken zu “Raphaela Edelbauer | DAS FLÜSSIGE LAND

  1. Ehrlich gesagt hat mich der erste Satz bisher eher abgeschreckt, weil ich ihn so gekünstelt finde, aber vielleicht gehört das dann zu dieser Sprache, die du anfangs auch schwierig fandest. Vielleicht les ich doch noch mal rein.
    Viele Grüße von zur Zeit um die Ecke!

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