Vea Kaiser | RÜCKWÄRTSWALZER

A 2019 | 425 Seiten
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-05142-1

In Lorenz Prischingers Leben gab es seit einigen Wochen zwei Arten von Klopfen. Das Gute und das Böse. (Seite 7)

Vea Kaiser ist nach Sarah Kuttner gleich die zweite Autorin in diesem Frühling, deren Karriere ich schon viele Jahre verfolge, von der ich aber noch nie etwas gelesen habe. Dank ihres mittlerweile dritten Romans RÜCKWÄRTSWALZER kann ich jetzt endlich einen Haken dahinter machen … und den Namen auch gleich streichen. Aber zu meinem Urteil komme ich später, zunächst einmal – worum geht es:


Als Onkel Willi unerwartet stirbt, soll der Leichnam von Wien nach Montenegro gebracht werden, wo der gute Mann immer begraben sein wollte. Eigentlich kein Problem, aber eine offizielle Überführung kostet ein kleines Vermögen, was die Hinterbliebenen nicht aufbringen können. Also muss Willi auf illegale Weise über tausend Kilometer und vier Grenzen geschmuggelt werden – tiefgefroren, geschminkt und mit Hut und Sonnenbrille auf dem Beifahrersitz eines Fiat Panda, um seine letzte Ruhe zu finden.

Am Steuer des Kleinwagens sitzt Willis Neffe Lorenz, ein erfolgloser Schauspieler, der eigentlich ganz andere Probleme hat und über diese irre Bestattungsfahrt nur den Kopf schütteln kann. Aber da muss er wohl durch, denn auf der Rückbank – ihm also buchstäblich im Nacken – sitzen seine drei Tanten Mirl, Wetti und Hedi – Willis Witwe –, die Prischinger-Schwestern, für die die Totentour eine Familienehre ist, denn »niemand wird zurückgelassen«. Also geht es los, durch Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina, während Onkel Willi langsam vor sich hintaut und die Tanten in der Vergangenheit schwelgen.

Abwechselnd mit den Kapiteln der Bestattungsfahrt, wird chronologisch die Geschichte der Prischingers erzählt, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg im ländlichen Niederösterreich aufwachsen, bevor es sie alle auf unterschiedliche Weise nach Wien verschlägt. Zu den drei Schwestern gehören noch die Brüder Sepp – Lorenz‘ Vater – und Nenerl, der in jungen Jahren schon tragisch ums Leben kommt. Für diesen Verlust geben sich die drei Schwestern die Schuld – eine Schuld, an der sie ihr Leben lang zu schwer zu schleppen haben, die sie aber auch auf innigste Weise zusammenschweißt.


So weit, so langweilig. Ganz ehrlich? Ich konnte dem Roman überhaupt nichts abgewinnen. RÜCKWÄRTSWALZER ist ein auf über vierhundert Seiten gedehnter konservativer Schmus, so einfallslos und unmotiviert wie die Volkstümliche Hitparade, da ist jeder ZDF-Fernsehgarten spannender. Und das liegt nicht mal an Vea Kaisers Schreibstil; ich kann und will ihr das schriftstellerische Talent gar nicht abstreiten. Der Roman ist einfach viel zu bieder, viel zu artig – Kaiser traut sich nichts.

Mal davon abgesehen, dass es Geschichten, in denen als schlafend getarnte Tote durch die Welt kutschiert werden, schon dutzende Male gegeben hat, und somit als extrem abgegriffen gelten dürfen – was hätte Kaiser aus einem solchen Plot nicht alles machen können, wenn sie nur etwas mutiger gewesen wäre? Ein bisschen mehr Punk und Anarchie hätten da schon gereicht. Stattdessen bleibt sie im Handlungsaufbau so lahm und beliebig wie ihre Hauptfiguren, die Prischinger-Schwestern, die nichts weiter sind als ewig zeternde Provinzweiber, die keinerlei Entwicklung durchmachen und mir einfach nur gehörig auf den Sack gingen. Auf der laut Klappentext so »abenteuerlichen« Fahrt durch den halben Balkan passiert so gut wie nichts und die Familiengeschichte ist auch nicht der Rede wert. Hier schneidet Kaiser zwar einige heikle Themen an – Ehebruch, Frauenrechte, Politik, Fremdenhass –, die aber sämtlichst im Sande verlaufen und nur geschrieben scheinen, um dem Roman eine Daseinsberechtigung zu verleihen.

Sehr nervig fand ich auch die ständig eingestreuten Lateiner-Anekdoten. Ich freue mich eigentlich immer, wenn Vea Kaiser bei irgendwelchen Talk-Shows oder Literatursendungen zu Gast ist. Sie ist wortgewandt, schlagfertig und charmant. Und jedes Mal – immer, wirklich immer! – ist ihr Lateinstudium Thema, zu dem sie sich auch sattelfest und stundenlang auslassen kann. Das hat mich auch nie gestört, ich fand das sogar interessant. Aber jetzt, nach der Lektüre dieses Buches, denke ich, es ist einfach nur jede Menge überflüssiges Wissen in ihrem schlauen Kopf, das sie irgendwo unterbringen muss. In diesem Buch fand ich es allerdings völlig deplatziert. Ich fürchte, wenn ich sie das nächste Mal in einer Sendung sehe und sie fängt wieder mit Homer und Properz an, muss ich wegschalten.

Und dann, zu allem süßen Überfluss, gibt es natürlich noch das kitschige Happy-End, mit Sahnehäubchen und extra Zucker. Oh Himmel, ich sehe schon die TV-Verfilmung kommen. Öffentlich-rechtlich natürlich, mit Iris Berben, Uschi Glas und Senta Berger als den Prischinger-Schwestern und Matthias Schweighöfer als Lorenz. Und Till Schweiger als Onkel Willi – dann muss er wenigstens nicht reden.

Nee Leute, das war nix. Irgendwo habe ich gelesen, wie Vea Kaiser mit John Irving verglichen wurde – das grenzt an Majestätsbeleidigung! Wenn Ihr einen wirklich guten Familienroman lesen wollt – inklusive Wien und Bären –, dann lest DAS HOTEL NEW HAMPSHIRE. Und wenn Ihr Österreich ohne rosarote Brille erlesen wollt, dann greift zu TONI UND MONI, damit fahrt Ihr besser.


9783462051421RÜCKWÄRTSWALZER ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Alle Informationen über Buch und Autorin findet Ihr hier. Weitaus positiver fielen die Kritiken bei letteratura und im Buchrevier aus.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

11 Gedanken zu “Vea Kaiser | RÜCKWÄRTSWALZER

  1. Wow, was für ein Verriss!! Bisher habe ich nur so viel Gutes über das Buch gelesen und eigentlich hatte ich mich sehr darauf gefreut. Ich hab’s von der Buchmesse mitgebracht und aufgrund der vielen anderen Mitbringsel noch nicht geschafft. Aber ich finde es gut, dass ich hier auch mal eine kritische Stimme gefunden habe. Ich konnte zum Beispiel mit „Altes Land“ von Dörte Hansen nicht viel anfangen und habe es abgebrochen. Alle anderen Menschen lieben das Buch aber offenbar…

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  2. Hmm, also ich habe ja auf der Buchmesse das wirklich große Vergnügen gehabt, Vea Kaiser live erleben zu dürfen und sie ist nun mal mit Leib und Seele Österreicherin. Das darf man nicht vergessen – dort ist das Leben eben anders. Und ich mag so etwas durchaus gerne. Was sie schreiben wollte ist eine Familiengeschichte und das hat sie getan. Was ihr Altphilologiestudium angeht – da hat sie die Verknüpfung zum Untertitel – also die Manen (den römischen Totenkult) mit reingebracht. Was ich jetzt aus deinem deftigen Verriss lese ist, dass Du inhaltliche nichts mitdem Buch anfangen konntest – verständlich. Aber was ist mit der Konstruktion, mit der Sprache mit dem Aufbau? Ist das auch alles so unschön für Dich? Das würde mich noch interessieren. LG, Bri

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    • Natürlich kann Vea Kaiser schreiben, das stelle ich auch gar nicht in Frage. Es ist aber alles so furchtbar altbacken und spießig. Die gute Frau ist Anfang dreißig und schreibt, als wäre sie doppelt so alt. Ich hatte mir das alles moderner und verrückter vorgestellt, vielleicht gerade weil sie in Gesprächen immer so locker und sympathisch rüberkommt. Ich hab da wohl andere Vorstellungen gehabt, denn hätte ich gewusst, was mich erwartet, hätte ich es liegen gelassen. Das ist typische Feel-Good-Prosa ohne Ecken und Kanten, damit kann ich nichts anfangen.

      Und den Aufhänger mit den Manen habe ich schon verstanden, es wird ja auch lang und breit erklärt. Meines Erachtens passt es aber nicht in eine Geschichte über eine Familie vom Lande. Es zeigt einfach nur, dass Vea Kaiser auf Biegen und Brechen ihr Lateiner-Wissen loswerden will.

      Kurz: Mir hat es nicht gefallen und ich bin durch mit Frau Kaiser.
      Beste Grüße von der Ostsee!

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      • Ist ja alles legitim. Wollte das nur einfach wissen. Danke für die Aufklärung 😉 – so ist das mit den Geschmäckern. Ich bin mal gespannt, ob ich es mögen werden …. Liebe Grüße aus Berlin, Bri

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    • Mit großer Verspätung eine Antwort aus Österreich: Stimmt, hier ist das Leben eben anders, und Vea Kaiser hat ganz tief ins Lokalkolorit-Kistchen gegriffen. Ich musste oft schmunzeln, was nicht zuletzt an Beschreibungen von Orten und Eigentümlichkeiten liegt, die ich sehr gut kenne. Ein bisschen verstaubt, ein bisschen klischeehaft, aber ich fand’s unterhaltsam und hab es auch als Verbeugung vor einer Generation von Frauen interpretiert, die es nicht ganz so leicht hatten, ihr Leben selbst zu bestimmen.
      Herzliche Grüße aus Wien
      Niamh

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  3. Ich fand schon ihren vorherigen Roman ziemlich langatmig, den ersten habe ich abgebrochen. Für mich eine ähnlich überschätzte Autorin wie Dörte Hansen. Dass so viele von ihren Büchern begeistert sind, hängt – so vermute ich – auch mit den Sympathiepunkten zusammen, die sie als Person bekommt.

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