Philip Roth | MEIN LEBEN ALS SOHN

USA 1991 | 224 Seiten
OT: »Patrimony: A True Story«
Aus dem Englischen von Jörg Trobitius
Carl Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-26240-9

Als mein Vater sechundachtzig Jahre alt wurde, hatte er auf dem rechten Auge die Sehkraft fast vollständig eingebüßt; doch er erfreute sich für einen Mann seines Alters einer phänomenalen Gesundheit, als er auf einmal Beschwerden entwickelte, die der Arzt in Florida fälschlich als Facialisparese diagnostizierte, eine Virusinfektion, die eine normalerweise vorübergehende Lähmung einer Gesichtshälfte verursacht. (Seite 7)

Immer, wenn ich gefragt werde, ob ich so etwas wie einen Lieblingsschriftsteller habe, antworte ich stets: Philip Roth. Sein Werk ist für mich die absolute Speerspitze der amerikanischen Literatur, seine Romane sind immer schonungslos ehrlich, tief bewegend und zeugen – öfter als man meint – von viel Humor. Und vor allen Dingen: Der Mann schrieb Sätze zum Niederknien. (Ich möchte jetzt nicht die alte Leier vom vorenthaltenen Nobelpreis ankurbeln, nur soviel dazu: Es ist eine Schande!) Nun musste ich kürzlich feststellen, dass ich schon seit Jahren nichts mehr von ihm gelesen hatte; die letzte Roth-Lektüre lag tatsächlich schon sechs Jahre zurück – das konnte so natürlich nicht bleiben.

In MEIN LEBEN ALS SOHN beschäftigt sich Philip Roth mit den letzten Lebensjahren seines Vaters Herman, der 1989 hochbetagt an einem Hirntumor stirbt. Beginnend mit den ersten Symptomen und einer ärztlichen (Fehl-)Diagnose, zeichnet Roth den Lauf des körperlichen Verfalls seines Vaters bis hin zu seinem bitteren Ende. Dabei legt er besonderes Augenmerk auf das emotionale Auf und Ab, dem sich alle Beteiligten wie einer Prüfung stellen müssen. Die anstehenden Operationen sind riskant und lassen abwechselnd hoffen und verzweifeln; die psychischen Belastungen sind enorm, was durch den Starrsinn Herman Roths, der Zeit seines Lebens ein erfolgreicher, stolzer – aber eben auch engstirniger – Mann war, nur noch erschwert wird.

Philip begleitet seinen Vater durch diese Zeit und wird dabei – trotz seines eigenen, nicht gerade jungen Alters – wieder zum kleinen Sohnemann, obwohl es Herman ist, der jetzt betreut werden muss. All die Erinnerungen an längst vergangene Tage, Momente der Liebe und des Hasses, die bloße Betrachtung der Dinge im väterlichen Domizil, die bald zum Nachlass gehören werden – kurz: Die Kompromisslosigkeit des Lebens in Erwartung des unausweichlichen Todes eines geliebten Menschen zwingt den sonst so starken Autor in die Knie.


MEIN LEBEN ALS SOHN gilt als Roths persönlichstes Buch. Es ist frei von stilistischen Spielereien und rhetorischem Schnickschnack, verzichtet aber trotz aller Direktheit nicht auf die typisch verästelten Sätze. Bei manchen Szenen könnte man Roth eine gewisse Indiskretion vorwerfen, besonders in Bezug auf den körperlichen Kontrollverlust seines Vaters, was äußerst unangenehme Folgen hat. Man beachte: Herman Roth war ein angesehener Mann in seiner Heimatstadt, keine Romanfigur, und sein Sohn einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit – nicht alle Anekdoten gehören an die Öffentlichkeit. Aber Roth will hier niemanden bloßstellen, er verfolgt nur – wie immer – sein Credo der Aufrichtigkeit. Und das – ebenfalls wie immer – bewegend und auf sprachlich höchsten Niveau.

Ein paar Monate nach Philip Roths Tod im Mai 2018 entschied sich der Hanser-Verlag zu einer kleinen Sonderedition, die vier seiner Romane umfasst, die sich gut als Einstieg in das umfangreiche Werk des Autors eignen. Ich finde die Reihe optisch ansprechend und würde mir sehr wünschen, dass sie fortgeführt würde. Besonders die vier Zuckerman-Romane oder die vergriffenen Frühwerke wie ANDERER LEUTE SORGEN oder UNSERE GANG wären doch perfekte Titel für eine Neuveröffentlichung. Hiermit also ein ganz dickes Bittebittebitte in Richtung München. Ich bin mir sicher, das würde nicht nur mich glücklich machen.


978-3-446-26240-9MEIN LEBEN ALS SOHN erschien bei Hanser als Wiederauflage in einer Sonderedition zum Tode Philip Roths. Alle Informationen über Buch und Autor findet Ihr hier. Und wie immer noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

3 Gedanken zu “Philip Roth | MEIN LEBEN ALS SOHN

  1. Hallo, wir haben im Herbst in meinem Lesekreis dieses Buch von Philip Roth gelesen und es hat alle Teilnehmer sehr berührt, wie er seinen Vater im letzten Jahr begleitet hat. Die Szenen, auf die Du anspielst, waren manchen zwar zu direkt, aber solche Situationen gehören zum Leben und Altwerden einfach dazu. Und Philip Roth lässt seinem Vater auch in beschämenden Situationen seine Würde. Wie immer war es eine Freude, Philip Roth zu lesen.

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