Colson Whitehead | UNDERGROUND RAILROAD

USA 2016 | 352 Seiten
OT: »The Underground Railroad«
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Carl Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-25655-2

Als Ceasar das erste Mal von einer Flucht in den Norden redete, sagte Cora nein. (Seite 9)

Die junge Cora ist Sklavin auf einer Baumwollplantage in Georgia, wie auch schon ihre Mutter und deren Mutter davor. Ihr Leben besteht aus Arbeit, Gehorsam und drakonischen Strafen des sadistischen Farmbesitzer. Von ihrem Freund Ceasar hört sie eines Tages von der Underground Railroad, einem geheimen unterirdischen Eisenbahnnetz, auf dem entlaufene Sklaven unentdeckt gen Norden in die Freiheit fahren können. Cora und Ceasar gelingt die Flucht und ihre Reise führt sie Staat für Staat immer weiter in den Norden, doch der Besitzer setzt mit Ridgeway einen erfahrenen Jäger auf sie an, einen kompromisslosen Bluthund, der ihnen immer dicht auf den Versen ist.


Eine traurige Geschichte ist es, die uns Colson Whitehead (*1969) hier auftischt. Ich denke, ich verrate nicht zuviel, wenn ich sage, dass es in diesem Buch sehr viele Opfer gibt und ebensoviel getrauert und gelitten wird. All das beschreibt Whitehead in einer ruhigen, fast teilnahmslosen Sprache, die erst in den letzten Kapiteln so richtig zu fesseln vermag; in den ersten drei Vierteln wird dieser trockene Schreibstil durch die Spannung der Flucht und der Jagd kompensiert.

Der größte Kniff aber in diesem Roman ist die Railroad selbst. Ein tausende Meilen langes, unterirdisches Schienennetz, auf dem man durchs ganze Land reisen kann? Das ist schwer zu glauben … und stimmt natürlich auch nicht. Die Underground Railroad wurde zwar genau so genannt, war aber ein netzwerkartiges Bündnis aus Sklavereigegnern und Informanten, die Entlaufene auf geheimen Pfaden von Schutzhaus zu Schutzhaus Richtung Kanada brachten. Dass Whitehead diese Bezeichnung wörtlich nimmt und dies als Grundgerüst für seinen Roman nutzt – die Historie also zugunsten der Literatur bewusst verfälscht –, gibt der Geschichte eine zusätzliche Ebene, einen doppelten Boden, der wahrscheinlich auch der Grund für den Erfolg des Buches ist. Hätte er dieselbe Geschichte ohne die fiktive Bahnstrecke geschrieben, wäre sie wohl nicht weiter aufgefallen.

Colson Whitehead avancierte mit der Veröffentlichung von UNDERGROUND RAILROAD endgültig zum Superstar. Spätestens mit dem Gewinn des National Book Awards und des Pulitzer Prize – das Kunststück, diese beiden renommierten Preise mit demselben Roman zu gewinnen, gelang zuletzt Annie Proulx 1993 mit SCHIFFSMELDUNGEN – waren ihm weltweiter Ruhm und hohe Auflagen sicher, und auch eine Verfilmung steht schon in den Startlöchern – ein voller Erfolg also. Zu Recht, wie ich finde. Trotz des distanzierten Schreibstils, der mir auf der Hälfte doch recht fade erschien, halte ich das Buch – besonders wegen der Bahnmetapher – für sehr gelungen und einen wichtigen Beitrag zum Verständnis und Gedenken an die leidvolle Geschichte der Afroamerikaner.
Lesenswert.


978-3-446-25655-2UNDERGROUND RAILROAD ist beim Carl Hanser Verlag erschienen. Alle Informationen über Buch und Autor findet Ihr hier. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

5 Gedanken zu “Colson Whitehead | UNDERGROUND RAILROAD

  1. Ich habe das Buch letztes Jahr für die Uni gelesen und war total begeistert. Ich hatte es innerhalb weniger Tage regelrecht verschlungen. Vor allem die Darstellung der „Underground Railroad“ als tatsächliche Eisenbahn fand ich wahnsinnig interessant und hatte dann sogar das Glück Colson Whitehead bei einer Lesung zu dem Buch in Köln zu sehen – ein unglaublich sympathischer und witziger Kerl! 🙂

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