María Cecilia Barbetta | NACHTLEUCHTEN

D 2018 | 521 Seiten
S. Fischer
ISBN: 978-3-10-397289-4

Elvio Gianelli tastete die Taschen seines Regenmantels nach Streichhölzern ab. (Seite 11)

Anfang der Siebziger Jahre war Argentinien ein fragiler Staat mit äußerst angespannten innenpolitischen Verhältnissen und einer am Boden liegenden Wirtschaft. Nach einer ganzen Reihe kurzlebiger Regierungen, von denen keine die Probleme bewältigen konnte, kehrte 1973 der ehemalige Präsident Juan Perón aus fünfzehnjährigem Exil zurück – für den Großteil der Argentinier der Heilsbringer schlechthin, der einzige Mann, der das Land vor dem Untergang retten konnte. Doch auch unter seiner Herrschaft nimmt die Gewalt im Lande zu und spätestens nach seinem Tod wenige Monaten nach der Wahl verliert das Volk zusehends jeden Halt.

Vor diesem Hintergrund spielt María Cecilia Barbettas neuer Roman NACHTLEUCHTEN. Ort des Geschehens ist die kleine Stadt Villa Ballester vor den Toren Buenos Aires‘, in dem ein plakativer Querschnitt des argentinischen Volkes lebt und arbeitet. Unter ihnen die junge Klosterschülerin Teresia, die mit einer kleinen Plastik-Madonna von Tür zu Tür geht, um die Lehren der Kirche unter die Leute zu bringen. Der sensible Friseur Celio verfolgt atemlos die politischen Wirren von seinem Salon »Ewige Schönheit« aus, dessen einziger Stammgast seine moribunde Mutter ist, die in einem der Sessel vor sich hin starrt. Und in der Autowerkstatt »Autopia« bildet sich ein proletarischer Thinktank utopisch-philosophischer Natur.

Diese und viele andere Figuren verbindet María Cecilia Barbetta – die selbst 1972 in Villa Ballester geboren ist – mit viel Liebe zum Detail zu einem breiten Panorama des Mittelstandes. Die Zerrissenheit des Landes spiegelt sich in der Bevölkerung wieder und mit wachsender Unsicherheit und zunehmenden Gewaltakten flüchten sich die Ballesteros – trotz Teresias Missionsdiensten – in Esoterik und Aberglaube, an dessen Gipfel eine übersinnliche Erscheinung – der Geist BLABLA – steht.

Sprachlich zeigt sich Barbetta experimentierfreudig. Sie spielt mit Worten, mit Buchstaben und Schriftarten, und legt in ihrem Erzählton ein unglaublich hohes Tempo vor, dass es mir persönlich oft zu viel wurde – eine wahre Quasselstrippenprosa. Auch der Humor kommt nicht zu kurz, auch wenn sie sich für manchen Gag bis zum Kalauer herunterbeugt. Aber diese Art von Wortwitz – bei dem sich bei manch einem Leser fast die Zehennägel umkrempeln mögen – wird hier dermaßen offensiv eingesetzt, dass es schon fast wieder charmant wirkt. (Zugegeben: Manche Gags sind auch wirklich gut. Eine Reinigungsfirma zum Beispiel heißt »Clean Eastwood«, doch geschäftsschädigenderweise heißt Eastwoods neue Krimireihe »Dirty Harry« – da musste ich schallend lachen, das ist brillant.)

Dieses hohe Tempo, diese Fülle an Handlungen und Charakteren, und dieses überbordende Fabulieren machte mich leider schon nach zwei Dritteln des Buches satt, ein Gefühl, das ich seit Köhlmeiers ABENDLAND nicht mehr hatte. Deswegen bin ich bei der Bewertung von NACHTLEUCHTEN auch sehr zwiegespalten. Ich mag Humor in ernsten Büchern, ich mag optimistische Figuren in ausweglosen Situationen und ich mag auch Meta-Spielereien mit Wort und Text. Aber ich hasse es, satt zu sein, bevor ich nicht alles aufgegessen habe und jeder weitere Happen eine Qual ist. Dennoch: Barbettas Gesellschaftspanorama ist zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und ich wünsche ihr viel Glück.


u1_978-3-10-397289-4.66536409NACHLEUCHTEN erschien beim S. Fischer Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke; alle weiteren Informationen findet Ihr hier. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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