Joshua Cohen | BUCH DER ZAHLEN

USA 2015 | 750 Seiten
OT: »Book of Numbers«
Aus dem Englischen von Robin Detje
Schöffling & Co.
ISBN: 978-3-89561-627-3

Verpisst euch doch einfach, wenn ihr dies am Bildschirm lest! Ich rede nur, wenn man mich mit beiden Händen packt. (Seite 11)

Der erfolglose Autor Joshua Cohen, dessen einziges Buch noch vor der Veröffentlichung  in den Trümmern des World Trade Centers untergeht, bekommt den Auftrag, die Lebensgeschichte des CEO der weltweit größten und einflussreichsten Internet-Suchmaschine Tetration niederzuschreiben. Der Name: Joshua Cohen, genannt »der Große Vorsitzende« – Online-Visionär, moderner Heiliger, von Legenden umrankt, von Regierungen gefürchtet.

Um eine erste Audienz beim Großen Vorsitzenden zu bekommen und seinen Auftrag beginnen zu können, muss sich Cohen digital komplett entblättern. Er wird von Tetration technologisch auf den neuesten Stand gebracht, darf nur noch firmeneigene Devices und Apps benutzen und muss seinem mächtigen Namensvetter die nächsten Wochen auf Schritt und Tritt folgen. Nach mehreren Sicherheitsvorkehrungen lernen sich die beiden kennen – der GroVo ist menschenscheu und von schwerer Krankheit gezeichnet – und es beginnt ein Interview, das sie vom kalifornischen Palo Alto über London, Paris und Dubai bis nach Abu Dhabi führt.

Am Ende der Reise hat Cohen etliche Stunden Material zusammen und sitzt mit klaren Anweisungen in Berlin, um das Buch niederzuschreiben, doch die Abschrift gestaltet sich schwierig. Denn was ihm der GroVo in den endlosen Sitzungen geschildert hat, war nicht nur die Lebensgeschichte eines eTech-Milliardärs, sondern auch ein Geständnis, ein Wirtschaftsthriller, ein Testament. Der mächtige Joshua Cohen hat sich über die Jahre ebenso mächtige Feinde gemacht, die die Veröffentlichung seiner Memoiren gar nicht gern sähen – und die stehen jetzt beim kleinen JC auf der Matte…


Was Joshua Cohen (*1980) uns Lesern hier in die Hände zaubert, ist ein irrwitziger Mix aus Sprachgewalt, umfassendem Wissen über die Geschichte des Internets und derbem Humor, gespickt mit jeder Menge metafiktionalen Spielereien. Eigentlich sind es zwei Romane in einem, denn beide Cohens bekommen ihre eigene Geschichte. Im ersten der drei Teile erfahren wir alles über den Leidensweg des Schriftsteller-JCs von der Zerstörung seines ersten Buches bis hin zum Treffen mit dem Milliardär-JC. Seine Geschichte setzt im dritten Teil wieder ein, als er mit den Aufzeichnungen von Berlin über Frankfurt nach Wien türmt. (Ach, und ganz nebenbei hat er auch noch Kleinkriege mit seinem Agenten und seiner Ex-Frau zu führen.)

Im zweiten Teil – dem Glanzstück des Buches – wird die komplette Lebensgeschichte Joshua Cohens, des Großen Vorsitzenden ausgebreitet. Von den Anfängen als Junge, als Schüler und Student, der den Beginn des Internetzeitalters grundlegend mitgestaltet und zum Online-Heiligen gedeiht. Diese satten 320 Seiten wären unter anderen Umständen schon ein eigenes Buch wert, wenn es da nicht so viele Ungereimtheiten gäbe, die sich nur im Kontext mit den anderen Teilen erklären ließen. Der GroVo spricht zum Beispiel nur in der wir-Form von sich und nennt seine Eltern M-Einheit und V-Einheit – dank Teil 1 wissen wir warum.

Stilistisch tobt sich Cohen – der echte jetzt – erschöpfend aus, ganz nach meinem Geschmack. Sehr interessant sind die Perspektivwechsel: mal lesen wir reine Abschriften des Interviews mit zwei Gesprächspartnern, mal erste Versuche einer prosaischen Reinschrift, die erst in Berlin, also in Teil 3 entstanden sein können. Auch textuell wird viel herumgespielt: Ganze Absätze sind gestrichen und es stellt sich die Frage, ob es sich lohnt, die gestrichenen Stellen mitzulesen oder ob sie wirklich vernachlässigt werden können. Auf jeden Fall mitlesen, sage ich da, denn genau hier erfährt man noch viel mehr über die Geschichte. Außerdem laden diese Abschnitte zum Mitlesen geradezu ein, sie sind ja nur gestrichen und nicht geschw████.

Ich habe mir beim Lesen viele Notizen gemacht, seitenweise Stichpunkte, die ich weiterverfolgen, abchecken oder mir einfach merken wollte, aber leider konnten sie nicht davor schützen, dass mir die Geschichte auf den letzten hundert Seiten etwas aus den Händen geriet. Was aber nicht schlimm ist, denn ein Lesegenuss war es auch mit den abschließenden Fragezeichen. Ich bin mir sicher, dass man in diesem Roman bei jedem Re-Read neue Ebenen entdecken, neue Querverweise finden und zu anderen Schlüssen kommen kann. (Allein der Titel schreit ja förmlich nach einer Verbindung mit dem 4. Buch Mose NUMERI, das ich völlig außen vor gelassen habe.) Und vielleicht nehme ich das BUCH DER ZAHLEN in ein paar Jahren nochmal aus dem Regal und freue mich auf die neuen Perspektiven, für heute aber bin ich erstmal satt und vollauf zufrieden.

Alle paar Jahre kommt ein Ami daher und zeigt uns, wozu Literatur fähig ist, in welche Höhen man Prosa stemmen kann. In Zukunft sollte auch hierzulande die Reihe Gaddis-Pynchon-DeLillo-Wallace um den Namen Cohen erweitert werden.


g-Cohen-Joshua-Buch-der-Zahlen-SchoefflingDas BUCH DER ZAHLEN ist beim Schöffling Verlag erschienen, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Die Mammutaufgabe der Übersetzung hat Robin Detje hervorragend gemeistert. Alle weiteren Informationen über den Roman findet Ihr hier. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

13 Gedanken zu “Joshua Cohen | BUCH DER ZAHLEN

  1. Mitreißende extrem überzeugende Rezension. Her mit dem Roman. Schwelge gerade im neuen Chabon und danach wieder gepackt zu werden ist immer schwer. Das Buch der Zahlen hätte ich wegen des Titels übersehen. Klang so trocken, aber vielleicht reiht es sich auch bei Mitchell, Chabon und Auster gut ein.Dankbare Grüße

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  2. […] „Was Joshua Cohen (*1980) uns Lesern hier in die Hände zaubert, ist ein irrwitziger Mix aus Sprachgewalt, umfassendem Wissen über die Geschichte des Internets und derbem Humor, gespickt mit jeder Menge metafiktionalen Spielereien. Eigentlich sind es zwei Romane in einem, denn beide Cohens bekommen ihre eigene Geschichte.“ (Bookster HRO) […]

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  3. Klingt sehr interessant! Ich hatte das Buch erst kürzlich in der Hand und habe überlegt, ob ich zuschlagen soll oder nicht. Habe es dann gelassen. Aber vielleicht überlege ich mir das noch mal. Jetzt bin ich nämlich neugierig …
    Liebe Grüße, Simone

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