D 2011 | 183 Seiten
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-04284-9
Scheiße fliegt durch die Luft, streift die Äste einer Linde, trifft das Dach eines vorbeifahrenden Busses, landet auf dem Strohhut einer jungen Frau, klatscht auf den Bürgersteig. (Seite 7)
INHALT: Sie hat es wahrlich nicht leicht – Ihre Mutter ist eine sadistische Säuferin, ihr Bruder schon in jungen Jahren völlig verängstigt und ihr Vater kaum anwesend. Sie wird schikaniert, geschlagen und gedemütigt. Sozial driftet sie mehr und mehr ab, sie lügt, betrügt und stiehlt, dabei will sie doch nur geachtet werden. Es eskaliert in einem selbstzerstörerischen Akt, der sie ins Krankenhaus bringt und das Jugendamt auf den Plan ruft. Was für viele als Katastrophe gilt, ist für das Mädchen eine Erlösung – sie kommt ins Kinderheim. Doch auch hier findet sie schlecht Anschluss, wird verspottet und rennt der Anerkennung hinterher. Noch dazu rührt ihr die Pubertät die Hormone durch, und neben all ihren Problemen soll sie auch noch den Abschluss machen und ins Berufsleben starten.
FORM: Angelika Klüssendorf (*1958) schildert in einer klaren, fast kalten Sprache die Geschichte einer harten Kindheit und Jugend. Erzählt wird im Präsens, was eine eindringliche Nähe schafft, die trotz allen Leidens nie ins Weinerliche kippt, was ich Klüssendorf hoch anrechne. In der ersten Hälfte des Romans folgt die Autorin dem Grundsatz Show, don’t tell! und überlässt ihren Lesern die Ergründung der Innenwelten, später dann streut sie immer öfter auch die Beweggründe des Mädchens zwischen deren Taten.
Übrigens: Dass das Buch in den frühen Siebzigern in Leipzig spielt, macht es meines Erachtens noch lange nicht zu einem DDR-Roman, denn das ist nicht das Thema. Sicher wird hier und da der Staatsapparat erwähnt und Honecker hängt auch an jeder Wand, aber bis auf diese Marginalien könnte die Geschichte ebenso in Hamburg oder Köln spielen.
Es ist unfassbar, woher das Mädchen – das den ganzen Roman über namenlos bleibt – immer und immer wieder die Kraft nimmt weiterzukämpfen. Der unerklärliche Hass und die Brutalität, die ihr von der Mutter entgegenschlagen, sind kaum zu ertragen. Es sind Szenen, bei denen man sich krümmt vor Scham und Wut. Ich lese solche Romane naturgemäß biografisch, doch nach dieser Lektüre hoffe ich, dass große Teile der Geschichte des Mädchens fiktiv sind – die Authentizität des Textes lässt allerdings auf das Gegenteil schließen.
FAZIT: Ein intensives Leseerlebnis – fünf Sterne.
DAS MÄDCHEN erschien beim Verlag Kiepenheuer & Witsch und ist dort auch bereits als Taschenbuch erhältlich. Alle weiteren Informationen findet Ihr hier. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
Bin gerade schon beim neuen Roman, dem dritten Teil. Du hast ja jetzt noch „April“ vor dir. Ich kann nur sagen, es bleibt schwierig …
Viele Grüße!
Ganz ähnliche Thematik, die im „Westen“ spielt: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2016/03/05/birgit-vanderbeke-ich-freue-mich-dass-ich-geboren-bin-piper-verlag/
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Danke für den Vanderbeke-Tipp!
Ich hatte auf die Veröffentlichung von JAHRE SPÄTER gewartet, um alle drei Teile hintereinander lesen zu können. Wirklich harter Tobak. Beste Grüße!
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Das ist es. In „Jahre später“ wird es zwar nicht mehr so brutal, aber anders schwierig.
viele Grüße
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Liegt auch ganz oben auf meinem Stapel, bin sehr gespannt. Danke für Deinen Eindruck. Liebe Grüsse aus Zürich. Adrian
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[…] Das Mädchen ist zur Frau geworden und hat sich einen Namen gegeben – April. Von ihrer tyrannischen Mutter hat […]
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[…] Roman endet mit der Idee zum ersten Satz aus DAS MÄDCHEN, führt also wieder an den Anfang zurück und bildet so eine kunstvolle Schleife. Muss man die drei […]
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[…] Maier | DIE STRASSE Angelika Klüssendorf | DAS MÄDCHEN Joshua Cohen | BUCH DER ZAHLEN Jesmyn Ward | SINGT, IHR LEBENDEN UND TOTEN, SINGT Petra Piuk | TONI […]
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