Marion Poschmann | DIE KIEFERNINSELN

D 2017 | 163 Seiten
Suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-42760-6

[…] Das schwarze Haar Mathildas breitete sich neben ihm auf dem Kissen aus, Tentakel einer bösartigen, in Pech getauchten Meduse. (Seite 7)

INHALT: Gilbert Sylvester – seines Zeichens Privatdozent und Leiter einer Forschungsgruppe für die historische Bedeutung des männlichen Bartes – ist sich sicher, dass seine Frau ihn betrügt. Um Abstand zu gewinnen, fliegt er kurzerhand nach Japan, um dort auf den Spuren des Nationaldichters Matsuo Bashō zu wandeln. Vor über dreihundert Jahren durchquerte dieser auf langen Reisen sein Land und setzte der Schönheit der fernöstlichen Natur in unzähligen Haikus ein Denkmal.

In Tokio angekommen, wird Sylvester Zeuge eines Selbstmordversuches – der junge Japaner Yosa Tamagotchi will sich in der Tokioter U-Bahn das Leben nehmen. Er ist zu schwach und fragil für die japanische Gesellschaft, deren soziale Grundpfeiler Erfolg und Disziplin sind. Sylvester überzeugt ihn, dass die U-Bahn ein furchtbar unwürdiger Ort ist, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Er nimmt sich Tamagotchi an und zusammen bereisen sie das Land, um einen bedeutenderen Ort für den Freitod zu finden, von denen es in Japan mehr als genug gibt, nicht zuletzt die sagenumwobenen Kieferninseln.

FORM: Marion Poschmann (*1969) legt mit DIE KIEFERNINSELN ein vielschichtiges, poetisches Kurzwerk vor, das in seinem Tonfall und seiner Figurenzeichnung ebenso ambivalent ist, wie das Land, in dem es spielt. Es gibt Szenen voller Komik – das Kabuki-Theater etwa, eine klassische japanische Kunstform, mit der Sylvester überhaupt nichts anfangen kann –, aber auch unheimliche Abschnitte, wie zum Beispiel die Nacht im Aokigahara, dem Meer der Bäume, einem beliebten Ort für Selbstmörder, in dem hunderte Verzweifelte den Tod fanden – und deren sterbliche Überreste dort zum Teil noch zu finden sind!

Die beiden Hauptcharaktere mit den seltsamen (und vielleicht sprechenden?) Namen könnten auf den ersten Blick unterschiedlicher kaum sein. Während Sylvester als typischer Mitteleuropäer voll motiviert, ein bisschen selbstgerecht und schnell gelangweilt ist, wirkt Tamagotchi dagegen wie ein nasser Lappen, willenlos und leicht lenkbar. Auf anderen Ebenen sind sich beide aber doch sehr ähnlich.

Ebenso zweiseitig verhält es sich mit dem Land, das sie durchqueren – Japan. Ich denke, kaum ein anderes Land kann so unterschiedliche Pole aufweisen wie dieses Märchenreich, das wohl auf ewig zwischen altertümlicher Mystik und futuristischer High-Tech-Moderne festsitzen wird. Das Motiv der Ambivalenz kommt in Poschmanns Roman häufig vor, nicht zuletzt in den zahlreichen Beschreibungen der Bäume selbst:

Mal stand der Baum für das Flüchtige, nur dazu da, das Ewige durch sich erstrahlen zu lassen, mal stand er für das Unvergängliche inmitten der permanenten Veränderung, er war das eine und das andere, er war ein Widerspruch in sich. (Seite 114)

Die Widersprüchlichkeit der Figuren, des Landes und des Lebens, das ist Poschmanns Thema.

FAZIT: Japan wird für mich immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben, daran konnten DIE KIEFERNINSELN nichts ändern. Was für mich bleibt, ist eine teils unterhaltsame, teils nachdenkliche, zu jeder Zeit aber angenehme Leserfahrung, die ich gerne weiterempfehle. Fünf Sterne.


42760.jpgMarina Büttner von literaturleuchtet war ebenfalls ganz entzückt – hier geht es zu ihrer Rezension. DIE KIEFERNINSELN erschien beim Suhrkamp-Verlag; alle weiteren Informationen über den Roman findet Ihr hier. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

6 Gedanken zu “Marion Poschmann | DIE KIEFERNINSELN

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