Mariana Leky | WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN

D 2017 | 315 Seiten
DuMont Buchverlag
ISBN: 978-3-8321-9839-8

Als Selma sagte, sie habe in der Nacht von einem Okapi geträumt, waren wir sicher, dass einer von uns sterben musste, und zwar innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden. Das stimmte beinahe. Es waren neunundzwanzig Stunden. (Seite 13)

INHALT: Die Bewohner einer kleinen Gemeinde im Westerwald leben in heller Aufregung, seitdem die Runde gemacht hat, dass die gute Selma von einem Okapi geträumt hat. Dieses merkwürdige Tier gilt seit jeher als Omen dafür, dass innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden ein Mitglied der Dorfgemeinschaft sein Leben lassen muss. Ob nun abergläubisch oder nicht, alle scheinen den Tod in ihrer Nähe zu wissen und beginnen, ihre Leben aufzuräumen – lang bewahrte Geheimnisse müssen gelüftet, große und kleine Lügen aus der Welt geschafft werden. Selmas Enkeltochter Luise und ihr Schulfreund Martin beobachten das ganze Spektakel mit einer Mischung aus Verwunderung und Skepsis. Als die vierundzwanzig Stunden ohne Zwischenfall vergehen, atmen alle tief durch und sind froh, dass vielleicht doch nicht alle Geheimnisse gelüftet wurden. Gevatter Tod aber, der miese Sack, schlägt dann doch noch zu, mit aller Härte, mitten ins Herz der kleinen Gemeinde.

FORM: Mariana Leky (*1973) lässt die kleine Luise als Erzählerin durch die Geschichte wandern, wobei sie der gewählten Ich-Perspektive nicht immer treu bleibt und manchmal ins Auktoriale wechselt. Der Schreibstil ist eine leicht zu lesende Mischung aus Märchenbuch und Plaudertasche, was mich sehr an die Prosa Tilman Rammstedts und Saša Stanišics erinnert hat – der Magische Realismus scheint wieder modern zu sein. Lekys Sätze sind vielschichtig und sowohl humorvoll als auch tiefsinnig. Es gibt Szenen zum Schlapplachen, gefolgt von herzergreifender Tragik. Und auch das schrullige Personal hält eine große Spannweite bereit, wobei auch die größten Unsympathen ihre hellen Momente bekommen.

Der erste der drei Teile spielt in den frühen 1980er Jahren und behandelt Oma Selmas Traum und deren Auswirkungen. Die Teile zwei und drei spielen nochmal zwölf bzw. zwanzig Jahre nach den Ereignissen. Wir Leser begleiten Luise also zu verschiedenen Stationen ihres Lebens und lernt mit ihr die Liebe und die Freundschaft kennen, aber auch die Trauer und den Verlust.

Neben der Hauptgeschichte um Luise, ist es auch interessant, wie Leky mit einfachsten Mitteln die Zeit verstreichen lassen kann. Im Kapitel Unendliche Weiten (ab Seite 247), das mir sehr gefallen hat, lässt sie mal eben acht lange Jahre vorbeirauschen und präsentiert hierfür dutzende kleine Anekdoten in Luises Leben, damit wir sie nicht aus den Augen verlieren. Wie ein flacher Stein gut geworfen über einen breiten Fluss bis ans andere Ufer springt, nimmt sie uns Leser mit durch die Zeit. Das ist wunderbar geschrieben und zeugt von großer Kunstfertigkeit.

FAZIT: »Die Literatur«, so der unvergessene Marcel Reich-Ranicki einmal, »kennt nur zwei Themen: Die Liebe und den Tod. Alles andere ist Mumpitz.« Genau diesen beiden Gegenpolen hat sich Mariana Leky in ihrem großartigen Roman verschrieben, und zwar – und das ist mir sehr wichtig – ohne bei der Liebe ins Kitschige abzurutschen und beim Tod absichtlich auf die Tränendrüse zu drücken. Alles dazwischen – der Mumpitz sozusagen – ist so wunderschön geschrieben, dass ich nach der Lektüre wirklich ergriffen war.
Eines meiner Bücher des Jahres – fünf Sterne.


Unter den zahllosen Rezensionen zu diesem Roman gab es jede Menge Jubelgeschrei. Hier eine kleine Auswahl:
Die Klappentexterin | Die Buchbloggerin | Günter Keil | Feiner reiner Buchstoff | Buzzaldrins Bücher | letusreadsomebooks

Ich danke dem DuMont Buchverlag für das Rezensionsexemplar. Alle weiteren Informationen über den Roman findet Ihr hier.

9 Gedanken zu “Mariana Leky | WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN

  1. Ich habe es als Hörbuch, bin noch nicht ganz durch, zuerst empfand ich es stark binsenweisheitshaltig, mittlerweile bin ich dem Charme der Geschichte aber ebenfalls völlig verfallen.
    Der gute Lispler sprach da wahre Worte 😉 Schön hier eine „männliche“ Rezension zu lesen. Da kann ich es meinem Göttergatten beruhigt weiterreichen. Danke

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    • Stimmt: Das Buch hat wohl eher die weiblichen Leser zur Zielgruppe, was mir aber reichlich wurscht ist. Manchmal lasse ich mich ganz gern auf eine gut geschriebene Liebesgeschichte ein. In diesem Fall war es ein Volltreffer. Noch dazu beehrt Frau Leky meine Heimatstadt Rostock im Winter mit einer Lesung, worauf ich mich schon sehr freue.
      Beste Grüße aus dem Norden! Bookster HRO

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  2. Schöne Rezension. Wir werden demnächst auf unserer Seite auch eine Rezension veröffentlichen und der Tenor geht in die gleiche Richtung. Schönes Buch, ohne dabei zu sehr in den Kitsch abzudriften. Aber wie könnten diese herrlich liebevollen, verschrobenen Charaktere auch kitschig sein. 🙂

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