Philipp Winkler | HOOL

D 2016 | 310 Seiten
Aufbau Verlag
ISBN: 978-3-351-03645-4

Ich wärme meinen neuen Zahnschutz in der Hand an. Wende ihn mit den Fingern und presse ihn etwas zusammen. So mache ich es vor jedem Kampf. (Seite 5)

INHALT: Ein Leben ohne Hannover 96 ist für Heiko Kolbe unvorstellbar. Seit frühester Jugend dreht sich alles um seinen geliebten Club. Allerdings geht es seit einigen Jahren kaum noch um den Fußball als solchen. Heiko ist ein Hooligan, der sich regelmäßig zur »Dritten Halbzeit« mit den Fans anderer Mannschaften prügelt – knallhart und ohne Erbarmen, bis das Blut spritzt. Oft sind solche Schlägereien organisierte Treffen mit klaren Regeln. Doch Heiko ist auch außerhalb dieser Fights aggressiv und leicht reizbar.

Von seiner Mutter in jungen Jahren verlassen, mit einem alkoholkranken Vater und stets im Schatten der gebildeten, älteren Schwester aufgewachsen, lebt Heiko heute unter allerlei zwielichtigen Gestalten. Er hat ein spärlich möbliertes Zimmer in einem Haus weitab im Wald, wo der Ex-Knacki Arnim illegale Tierkämpfe abhält und gerne auch mal zwei Kampfhunde auf einen Braunbären loslässt. Heiko arbeitet in einem Gym, das von seinem Onkel Axel geleitet wird, einem Szenekenner der ersten Stunde, der die Hool-Treffen organsiert und nebenbei krummen Geschäften mit Bikern, Neo-Nazis und der osteuropäischen Mafia nachgeht.

Ein obskurer Freundeskreis also, den Heiko da um sich hat. Doch es gibt auch ein Mädchen, Yvonne, die die Kraft gehabt hätte, Heiko vom Rand der Gesellschaft wegzuzerren. Aber die Beziehung – die einzige in Heikos Leben, die wenigstens ein bisschen Liebe und Geborgenheit versprach – ging in die Brüche und Heiko verbringt so manche Nacht im Auto vor ihrem Haus und weint ihr nach.

Als sich Heikos Hool-Freunde nach und nach aus der Szene verabschieden, weil sie berufliche oder familiäre Chancen ergreifen (oder körperlich einfach nicht mehr mithalten können), sieht sich Heiko mehr und mehr im Stich gelassen. Doch was soll man anfangen in einer Welt ohne Liebe und Halt?

FORM: Philipp Winkler (*1986) hat mit HOOL eine brettharte Sozialstudie geschrieben, über eine Szene, die sich neutral betrachtet jedem Verständnis entzieht. Die Sätze sind kurz und knackig und von Heikos Gossensprache geprägt. Es gibt Szenen voller bluttriefender Gewalt, und je klarer dem Leser wird, dass sich so etwas ständig irgendwo abspielt, desto authentischer werden sie.

Die Kapitel springen unregelmäßig in den Zeiten, beleuchten auf diese Weise die Vergangenheit der Hauptperson und entblättern einen Charakter, dem es im Leben vor allem an einem gefehlt hat: Zuneigung.

Über die Jahre abgestumpft und immer auf der Suche nach Anerkennung und Verbundenheit erscheint Heikos sozialer Abstieg vorprogrammiert. Dabei lässt Winkler seinen Antihelden aber nicht gänzlich dumm dastehen. Heiko hat eine gewisse Intelligenz und gesunde moralische Werte – wenn man mal vom Brechen anderer Leute Knochen absieht. Aber er hat auch einen fürchterlichen Dickkopf, eine unbezähmbare Wut und große Angst, alles zu verlieren, was er sich aufgebaut hat – was auch immer das sein möge. Winkler hat damit einen interessanten Charakter geschaffen: nicht gerade ein Sympathieträger, aber vielschichtig und ambivalent.

FAZIT: Ich muss zugeben, dass ich zu den Daddys gehöre, die sich nur zur Weltmeisterschaft für Fußball interessieren. Laut Heiko Kolbe bediene ich damit ganz klar eines der vielen Feindbilder (Seite 169) … womit ich aber ganz gut leben kann. Und die Hooliganszene ist von mir so weit entfernt wie das Königreich Tonga. Umso interessanter war die Lektüre dieses bemerkenswerten Debütromans, mit dem es Philipp Winkler 2016 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte. Es ist tatsächlich mal ein Blick in eine für mich völlig unbekannte Welt. Die Recherchearbeit Winklers (der selbst nicht Mitglied der Szene ist) muss gruselig gewesen sein. Dafür hat er meine vollste Hochachtung.

Für meinen Geschmack gab etwas zu viele Nebenkriegsschauplätze, und an die Gossensprache musste ich mich auch erst gewöhnen (sie kam mir an vielen Stellen ungeeignet vor), aber alles in Allem ist HOOL ein Roman, den man landläufig wohl solide nennt. Ich vergebe vier Sterne plus Leseempfehlung für Leute, die einen Blick in eine der dunkleren Ecken unserer Gesellschaft wagen wollen.

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