Andreas Maier | DAS ZIMMER

D 2010 | 203 Seiten
Suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-42174-1

Das Zimmer meines Onkels J. liegt im ersten Stock links zur Uhlandstraße hin, direkt gegenüber dem Badezimmer, das mein Onkel wahrscheinlich gar nicht benutzen durfte. (Seite 7)

INHALT: Das idyllische Bad Nauheim in der Wetterau, ein paar Kilometer nördlich von Frankfurt am Main, ist 1969 ein verschlafenes Nest und J., der Onkel des Ich-Erzählers, ein verschlafener Zeitgenosse. Seine schwierige Geburt ließ ihn »mit einem Bein im Paradies stehen« und so irrt er als 39-jähriges Kind staunend durch eine Welt die stark im Wandel begriffen ist. Autos für jedermann, Menschen auf dem Mond – alles kaum zu fassen, besonders mit einem so geringen Fassungsvermögen.

Wir lernen Onkel J. bei einem ganz gewöhnlichen Tagesablauf kennen, pendeln mit ihm zur Arbeit nach Frankfurt, beobachten ihn bei den Frauen im Rotlichtviertel, begleiten ihn auf seinen nachmittäglichen Botengängen für die Familie und später dann auf dem Weg zu seiner Stammwirtschaft, wo er sich für den harten Tag belohnen darf, und erkennen: Onkel J. ist ein Idiot, ein soziales Opfer mit fragwürdigen Vorlieben und gefährlichem Hang zur Unterwerfung (was sein komplettes Umfeld auch ausnutzt). Aber er ist auch wunderbar unschuldig, will einfach nur ein wenig Anerkennung und geht in seiner Einfalt den steinigen Weg immer und immer weiter.

Mein Onkel sah dort im Wald immer etwas, wo andere nichts sehen. Dagegen sah er unter den Menschen nie etwas, das sahen dann nur immer alle anderen. (Seite 193)

FORM: Der vorliegende Roman DAS ZIMMER ist Auftakt einer auf elf Bände angelegten Familiensaga namens ORTSUMGEHUNG. Andreas Maier (*1967) legt im ersten Band den Fokus auf seinen Onkel, während die Folgebände eher die eigenen Erfahrungen behandeln. DAS ZIMMER liest sich wie ein 200-Seiten-Porträt in dem ebenjener Tag im Jahre 1969 minutiös abgearbeitet wird, um mit jeder Begebenheit auf den Charakter J.’s eingehen zu können. Der Ton, den Maier dabei anstimmt, schwankt zwischen ironisch und nüchtern. Manchmal weiß man nicht so recht: Macht sich Maier jetzt über den Onkel lustig? Oder will er einfach nur aufrichtig beschreiben? Oder zuckt er mit den Schultern und sagt: »Schaut ihn euch an! Noch Fragen?«

Da war jemand, der sich jeden Tag bereitwillig als Opfer darbot, und je mehr man zuschlug und zutrat, desto loyaler band er sich an einen. Das kannten sie nicht. Das überforderte sie. Da mussten sie gleich wieder zuschlagen. (Seite 86)

Sicher: Onkel J. kann einem leidtun, aber er ist in mancher Hinsicht auch furchtbar unsympathisch. Diese Ambivalenz, sowohl in Onkel J.’s Charakter als auch in der Tonlage des Autors, hinterlässt einen interessanten Nachgeschmack, der einem auch ein wenig den Spiegel vorhält und am schlechten Gewissen rüttelt.

FAZIT: Mir hat der Roman sehr gut gefallen. Durch Marina Büttners wohlwollende Besprechungen der Folgeromane bin ich auf die ORTSUMGEHUNG aufmerksam geworden (An dieser Stelle vielen Dank!) und dieser großartige erste Band hat mein Interesse an den Fortsetzungen geweckt. Fünf Sterne plus Leseempfehlung!

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